Spiegel an der Wand

Mit Corona-Modellierungen sollte man vorsichtig und wissenschaftlich sauber umgehen

Sie ist derzeit in vieler Munde: die »Omikron-Wand«. Viele Medienvertreter verwenden den Begriff, auch Politiker bis hin zum Bundesgesundheitsminister. Doch anders als die »Welle« macht er keinen Sinn: Gegen eine Wand kann man rennen oder mit dem Kopf durch sie durch wollen. Bergsteiger wissen, je steiler eine Wand ist, umso länger dauert es, sie zu erklimmen - bei Omikron ist es umgekehrt. Sicher hat auch noch niemand eine Wand gesehen, die selbst dem britischen Inzidenzchart gleicht, der viel steiler verlief, als es in Deutschland erwartet wird.

Nun sind missglückte Sprachbilder eigentlich nicht der Rede wert, doch das Beispiel führt in die Abgründe der medialen Verarbeitung der Pandemie. Der Begriff stammt aus einem völlig verunglückten Modellierungsversuch von Datenjournalisten einer Wochenzeitung - deren Omikron-Inzidenzprognose für Ende 2021 lag um das Vierfache über der Realität. Eine Entschuldigung kam nicht. Stattdessen geriet der Begriff dank Twitter in massenhaften Umlauf. Klickzahlen und fetzige Schlagzeilen sind eben wichtiger als journalistische Verantwortung.

Modellierungen sind dann wichtig und gut, wenn sie verschiedene Szenarien aufzeigen, die bei unterschiedlichen Bedingungen eintreten könnten. In der Pandemie wurden sie oft entwertet, indem einzelne Zahlen als wissenschaftlich gesetzt dargestellt wurden. Ob dies an der Eigendynamik der Medienwelt liegt oder an der Lancierung von Modellierern selbst, die die oft zu zögerliche Politik gut gemeint warnen wollten, sei dahingestellt. Dem Kampf gegen das Virus und vor allem gegen die Fake-News der Coronaleugner erweist man mit maßlosen Übertreibungen und später ausbleibenden Horrorrealitäten einen Bärendienst. Die Pandemie ist auch ohne sie schlimm genug, und das wissen viele Leute auch.

Vielleicht könnte man die Omikron-Wand auch ganz anders verstehen: als Appell an alle, mal selbstkritisch in einen dort hängende Spiegel zu schauen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.