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Nie den Staat aus der Verantwortung entlassen
Lebensmittelunterstützung durch die Berliner Tafel hat vielen armen Menschen auch in der Coronakrise geholfen, erzählt Gründerin Sabine Werth
Ein total langweiliges Büro ist das hier«, sagt Sabine Werth lachend - im Gegensatz dazu ist sie eine alles andere als langweilige Erscheinung. Die Gründerin der Berliner Tafel, kürzlich 65 geworden, zeigt den geringsten Teil der Fläche, die ihre Organisation in der Halle 30 a im Berliner Großmarkt benötigt. Denn im Untergeschoss sind die entscheidenden 7600 Quadratmeter gemietet - Platz, um die wöchentlich weit über 100 Tonnen gespendeten Lebensmittel zu sortieren, die über 2000 haupt- und ehrenamtliche Tafel-Mitarbeiter*innen in der Stadt einsammeln und für insgesamt 46 Ausgabestellen vorbereiten. Die Lebensmittelverteilung firmiert unter dem Namen »Laib und Seele«, und ist ein Kooperationsprojekt von Tafel, Berliner Kirchen und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg. Insgesamt etwa 40 000 Berliner*innen greifen auf das Angebot zusätzlicher kostenloser Lebensmittel von »Laib und Seele« zurück, Tendenz steigend. Daneben fahren die mittlerweile 21 Transporter der Tafel über 350 Obdachlosen- und andere soziale Einrichtungen an, die zusätzlich etwa 90 000 Menschen versorgen.
Werth ist als Gesprächspartnerin ein absoluter Glücksfall. Freundlich, bestimmt, so sozial wie patent, erklärt sie, wie ein Verein funktioniert, der für sich den etwas zweifelhaften Erfolg reklamieren darf, mit dem Konzept seit Jahrzehnten in Berlin und bundesweit die existenziellen Nöte Hunderttausender Menschen zu lindern, ohne dafür einen Cent staatliche Gelder zu beziehen. Alles, was die Organisation braucht, um zu funktionieren, kommt aus Spenden, auch wenn sicher nicht nur der Berliner Senat, sondern ebenso andere Landesregierungen das Projekt am liebsten schon vorgestern großzügig fördern würden. Aber das erlaubt die Grundsatzerklärung der Tafeln nicht.
»Wir versorgen die Menschen nicht, wir unterstützen sie. Dieser Unterschied ist politisch, denn für die Versorgung ist der Staat zuständig und der soll dafür auch schön verantwortlich bleiben«, stellt Tafel-Gründerin Werth klar. »In früheren Zeiten haben wir gehofft, dass sie durch die zusätzlichen Lebensmittel etwas Geld haben, um sich auch mal ein Buch oder ein Kinoticket kaufen zu können, heute wissen wir: die anderen Lebensmittel sind so teuer, dass eh nichts übrig bleibt.«
Das Prinzip des 1993 von Werth ins Leben gerufenen Vereins beruht auf einem US-amerikanischen Vorbild, dem Projekt City Harvest New York - zu deutsch Stadternte New York. »Ehrenamtliche sammelten dort bei Banketts oder anderen Gelegenheiten Lebensmittel ein und verteilten sie an Obdachlose«, berichtet Werth. Weil die Situation von Menschen auf der Straße Anfang der 90er Jahre auch in Berlin sehr dramatisch war, habe man im Verein Initiativgruppe Berliner Frauen beschlossen, bereits damals unter dem Namen Berliner Tafel, etwas ähnliches zu etablieren - und belieferte recht bald 21 Obdachloseneinrichtungen mit Lebensmitteln: »Wir wollten denen eine Tafel decken, die es sich sonst nicht leisten können.« Es habe zwar vereinzelt den Vorwurf gegeben, die Idee unterlaufe die politische Forderung nach einer umfänglichen staatlichen Versorgung Bedürftiger, sagt Sabine Werth. Aber die meisten Einrichtungen für Obdachlose sowie mittlerweile Frauenhäuser, HIV- und Psychosozialberatungsstellen, Kinder- und Jugendeinrichtungen, zum Teil auch Schulen, begrüßten das Angebot sehr - und tun dies bis heute.
Das Prinzip ist seit fast 30 Jahren dasselbe, nur die Anzahl der Menschen, die in Berlin und bundesweit auf die insgesamt 960 Tafeln angewiesen sind, ist exorbitant gestiegen - auf insgesamt mittlerweile 1,6 Millionen. Einen »großen Sprung« in der Bedürftigkeit habe es 2005 gegeben, erinnert sich Sabine Werth. Damals habe man für die Hauptstadt nach einem Weg gesucht, um die Verteilung ortsnah zu organisieren: »Wir hätten Leute, die kein Geld für Brot haben und dementsprechend auch keins für ein BVG-Ticket, quasi kriminalisiert, dass sie ohne Ticket zu uns hätten fahren müssen, um die Lebensmittel abzuholen«, hat Werth damals in einem Radiointerview erklärt. Und zum ersten Mal offen überlegt, die Berliner Kirchen zu involvieren, woraufhin noch im selben Jahr »Laib und Seele« entstanden ist. Alle Ausgabestellen in den zwölf Bezirken befinden sich im Umfeld von Berliner Kirchengemeinden, mit sechs aktuell die meisten in Reinickendorf. Jeder wurde eine bestimmte Auswahl von Postleitzahlen zugewiesen. Wer dort hinkommt, muss nachweisen, dass er in einem der Bereiche wohnt. Und es kamen immer mehr Menschen.
Seien es vor Ausbruch der Corona-Pandemie 50 000 Berliner*innen gewesen, die mittlerweile an den Stellen wöchentlich die Lebensmittelspenden abgeholt hätten, seien es seit zwei Jahren eher 40 000, so Werth. »Die Hochbetagten machen sich nicht auf den Weg, wollen sich nicht in öffentliche Verkehrsmittel begeben oder haben Angst, dass sie auf zu viele Menschen treffen.« Man merke derzeit aber, dass die Zahlen wieder anziehen. 2020 mussten die Ausgabestellen aufgrund der Eindämmungsmaßnahmen schließen. Zudem sind die meisten der dort tätigen Ehrenamtlichen jenseits der 60 und damit Teil der Hochrisikogruppe für eine schwere Covid-19-Erkrankung.
Schon im März des ersten Coronajahres erlebte die Tafel eine sensationelle Welle der Solidarität. »Wir haben sofort angefangen, Tüten zu packen, die enthielten acht, neun Kilo mit Obst, Gemüse und haltbaren Lebensmitteln«, berichtet Sabine Werth. Über die Kirchengemeinden sei abgefragt worden, wer eine Haustürlieferung benötige.
178 000 Lebensmitteltüten seien dann in den ersten Wochen des Lockdowns ausgeliefert worden, unter anderem von 1500 neu hinzu gekommenen Ehrenamtlichen - Kurzarbeiter*innen, Student*innen, Schüler*innen. »Zum Glück gab es die, wir mussten ja zusätzlich das Einsammeln der Lebensmittelspenden organisieren, was sonst den Ausgabestellen obliegt. Unser Ehrenamtsbereich hat geackert wie wild«, sagt Werth.
Und nicht nur die Zahl der ehrenamtlichen Helfer*innen hatte sich im ersten Lockdown vervielfacht: Statt 800 bis 900 Stellen zum Einsammeln von Spenden habe man plötzlich 1400 anfahren müssen, berichtet die ehrenamtliche Tafel-Vorsitzende und kann sogar angesichts der zahlreichen Unfälle mit den Transportern lachen, die damals von Leuten verursacht worden seien, »die sich zwar zutrauen, einen Sprinter zu fahren, aber das nicht unbedingt können«. Insofern seien auch Lastenrad-Ausfahrer*innen eine große Hilfe gewesen, hebt Werth die sogenannten Rebel Riders von der Umweltschutzgruppe Extinction Rebellion hervor.
Gefragt, wie es mit der neuen Berliner Regierung und ihrem sozialpolitischen Engagement weitergeht, bleibt Sabine Werth zurückhaltend. »Ich hatte gute Beziehungen zum alten Senat, die Neuen muss ich alle erst mal kennenlernen.« Die Erfahrung hätte gezeigt, dass Sozialpolitiker*innen sich immer dann gern auf die Tafel beziehen, wenn sie von der an ihnen geübten Kritik ablenken wollten. »Ich durchschaue nach nunmehr 29 Jahren sehr genau, ob jemand Green Washing betreibt oder es ernst meint«, erklärt die Sozialpädagogin, die hauptberuflich ein Familienpflege-Unternehmen betreibt. Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli sei in ihren Augen eine »echte« Unterstützerin, »die taucht auch bei nichtigen Anlässen auf, um uns zu unterstützen«. Chebli war es dann auch, die angesichts der Coronakrise durch Amtshilfe des Bundes dafür sorgte, dass das Technische Hilfswerk der Tafel zur Seite sprang.
Es gibt sie also, die sinnvolle Zusammenarbeit, wie auch im Fall des Impfmobils, das Sabine Werth vor die Ausgabestellen orderte. »Immer wenn es an einer Stelle gehakt hat, habe ich gesagt: ›Das wäre doch echt schade, wenn das jetzt öffentlich wird, dass es nicht klappt.‹ Und dann klappte es doch - innerhalb kurzer Zeit.« 1800 Menschen erhielten auf dem Weg ihre Impfung, die meisten, glaubt Sabine Werth, hätten den Weg zum Impfzentrum eher gescheut. Man könnte auch sagen: Sie kennt ihre Schäfchen ganz genau. Und sie kennt die Politik, mit der sie kein Abhängigkeitsverhältnis eingehen will, sondern daran erinnern, was ihre eigentliche Aufgabe ist: für die Menschen da zu sein.
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