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»Ich blicke mit Entsetzen zurück«
Shane Paul O’Doherty über seine Zeit bei der IRA und seine Abkehr von militanter Gewalt
Shane Paul O’Doherty, geboren 1955 als zweitjüngster Sohn einer kinderreichen katholischen Lehrerfamilie, war bereits mit zehn Jahren überzeugt: »Wenn ich groß bin, will ich kämpfen und notfalls für Irlands Freiheit sterben.« Bereits mit 15 Jahren trat er der IRA bei und erlebte am 30. Januar 1972 den sogenannten Blutsonntag mit. Danach verübte mehrere Bombenschläge und saß dafür 14 Jahre im Gefängnis. Während seiner Odyssee durch englische und irische Gefängnisse sagte sich O’Doherty vom bewaffneten Kampf los. In seinem 1989 erstmals im englischen Original erschienenen und vor drei Jahren auf Deutsch übersetzten Buch »The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen« beschrieb er seinen Werdegang.
Herr O’Doherty, der Nordirland-Konflikt erreichte vor 50 Jahren mit dem »Blutsonntag« in der nordirischen Stadt Derry einen traurigen Höhepunkt: Britische Fallschirmjäger eröffneten das Feuer gegen eine verbotene Demonstration katholischer irischer Bürgerrechtler. 13 Zivilisten wurden getötet, 13 verwundet. Sie haben die Schießerei als Teenager überlebt. Wie hat dieser Tag Ihr weiteres Leben geprägt?
Zunächst war der 30. Januar 1972 für mich ein ganz normaler Sonntag. Es fand eine der regelmäßigen Demonstrationen für Bürgerrechte statt. Ich war gerade 17 Jahre alt geworden. Es war aufregend, Teil einer so großen politischen Bewegung zu sein. Mehrere Tausend Menschen waren auf der Straße. Wir rechneten nicht damit, dass etwas passieren würde. Als wir uns, am Ende der Demonstration mitmarschierend, den britischen Soldaten näherten, wurden aus unseren Reihen Steine gegen den »Feind« geworfen. Das war nicht außergewöhnlich, sondern eine damals normale Äußerung von Empörung. Plötzlich hörten wir jedoch ganz in unserer Nähe Schüsse. Die britischen Soldaten begannen mit scharfer Munition in die friedliche Demonstration zu feuern! Alle gerieten in Panik und rannten um ihr Leben. Menschen lagen auf dem Boden oder versteckten sich hinter Häusern, um nicht erschossen zu werden. Ich sah blutüberströmte Menschen und Leichen. Ich selbst konnte mich retten.Nach der Schießerei hörte ich, wie britische Offiziere und Polizisten darüber lachten, mit einem Mal so viele Menschen getötet zu haben. Seit diesem Tag war Irland ein anderes Land.
Nach dem »Bloody Sunday« stürmte ein wütender Mob die britische Botschaft in Dublin und brannte sie bis auf die Grundmauern nieder. Auch die IRA verübte mehrere Anschläge als Racheakte. Sie sind der Irish Republican Army bereits im Alter von 15 Jahren beigetreten. Wie kam es dazu?
In den 70er Jahren gab es in Derry immer wieder Unruhen und Proteste gegen die britische Herrschaft, an denen ich mich regelmäßig beteiligte. Nach einer dieser Aktionen fragte mich ein Freund, ob ich nicht in die geheim agierende Organisation eintreten wolle. Spontan willigte ich ein. Am nächsten Abend traf ich in einer Wohnung zwei ältere Männer, die Jugendliche für die IRA rekrutierten. Ich leistete einen »Treueeid«, und in Sekundenschnelle war ich Mitglied. Ich fühlte mich bereits als Held. Es war ein wirklich sehr berauschender Moment. Nach dem »Bloody Sunday« hatte ich mit 17 Jahren die Entscheidung getroffen, nicht mehr nur gegen die Briten zu demonstrieren, sondern aktiv gegen sie zu kämpfen.
Waren Sie sich der tatsächlichen Gefahren des bewaffneten Kampfes bewusst?
Keineswegs.Wir waren völlig naiv, wir hatten überhaupt keine Ahnung. Es war eine Mischung aus patriotischem Hass und kindlichem Idealismus. Die IRA spielte mit dieser Unwissenheit. Sie rekrutierte Kinder und Jugendliche wie mich, um sie gegen gut ausgebildete und bewaffnete britische Soldaten kämpfen zu lassen. Wir waren reines Kanonenfutter für die IRA. Viele Teenager verloren ihr Leben, einige bereits mit 13 oder 14 Jahren. Leider war ich damals zu jung und zu dumm, um dies zu erkennen. Heute weiß ich, dass die Rekrutierung von Kindern ein Kriegsverbrechen ist.
Sie wurden Bomben- und Sprengstoffexperte für die IRA und waren 1975 für eine Reihe von Briefbombenattentaten in London verantwortlich. Dadurch wurden Sie »Großbritanniens meistgesuchter Mann«.
Bereits als 15-Jährigem wurde mir - wie auch anderen Gleichaltrigen - beigebracht, wie man aus Schwefelsäure, Kondomen und einem chemischen Gemisch Bomben basteln kann. Wir hatten keine Ahnung, wofür Kondome eigentlich gut sind. Wir waren langweilige katholische Jungs. Und doch sprengten wir gleichzeitig Geschäfte und Betriebe in der Stadt in die Luft und legten Bomben in Kasernen und in Polizeidirektionen. Später entschied ich mich, nach London zu gehen, und dort Briefbomben zu verschicken, weil ich dachte, dass ich damit dem irischen Befreiungskampf mehr Aufmerksamkeit verschaffen könnte.
Wie beurteilen Sie rückblickend Ihre Motivation? Welche Rolle spielten Nationalismus, Religion oder auch Sozialismus?
Die IRA war katholisch geprägt, patriotisch und nationalistisch motiviert. Die Führung mag sich mit sozialistischen Ideen beschäftigt haben, aber die Menschen, die vor Ort in Irland gekämpft haben, hatten keine Vorstellung vom Sozialismus. Wir wurden vielmehr dazu erzogen, Kommunisten und Sozialisten zu fürchten. Jegliches Gerede über Sozialismus innerhalb der IRA ist schlichtweg weit hergeholter Blödsinn. Wir mussten von einem Tag auf den anderen überleben und dachten nur an unser kleines Stückchen Nachbarschaft.
Zur gleichen Zeit fand auch in Deutschland ein bewaffneter Kampf statt. Die RAF verfolgte vor allem internationalistische und antiimperialistische Ziele. Waren militante Auseinandersetzungen in anderen Teilen Europas von Bedeutung für Sie?
Nicht wirklich. An einem Sonntags las ich in einer Zeitung von Briefbomben der palästinensischen PLO, während ich gerade an meinen bastelte. Das war meine einzige Berührung mit internationaler Politik.
1975 wurden Sie gefasst und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
Bereits Weihnachten 1974 war ein Waffenstillstand in Kraft getreten. Trotzdem wurde ich noch am 9. Mai 1975 von Zivilpolizisten festgenommen, als ich meine Mutter in ihrem Haus in Derry besuchte. Empört über diesen Bruch des Waffenstillstands überfiel die IRA wenig später eine Polizeistreife in Derry und erschoss einen 19-jährigen Polizisten. Dessen Vater war allerdings der leitende Beamte des Gefängnistrakts, in dem ich einsaß. Er drohte mir unverblümt, mich in meiner Zelle zu erhängen.
Bis 1989 durchliefen Sie verschiedene britische und irische Gefängnisse, befanden sich teilweise in Isolationshaft.
Die Haft war eine schlimme Zeit. Im Gefängnis findet man aber auch Muße zum Nachdenken und zum Lesen. Ich las die Bibel und kehrte zu meinem katholischen Glauben zurück. Vor allem begann ich meine bisherige Rolle als Kämpfer der IRA immer mehr zu hinterfragen.
Sie waren der erste IRA-Kämpfer, der sich öffentlich in Briefen bei den Opfern seiner Anschläge entschuldigte. Wie reagierten Ihre ehemaligen Mitstreiter darauf?
Von anderen IRA-Gefangenen wurde bereits jede Andeutung, jegliche noch so zaghafte Überlegung, dass man Schuld auf sich geladen habe, als verräterisch angesehen, ganz zu schweigen vom Bekunden von Reue oder der Anerkennung, dass auch die Opfer Rechte haben könnten. Als ich im Gefängnis beschloss, aus der IRA auszutreten, entwarfen andere IRA-Häftlinge einen Plan, mich zu ermorden. Zum Glück wurde jener Gefangene, der diesen Anschlag ausgeheckt hatte, in ein andere Haftanstalt verlegt, bevor mir etwas passieren konnte. Doch auch danach sprachen die meisten anderen IRA-Gefangenen nicht mehr mit mir. Ich wurde völlig ignoriert.
Wie beurteilen Sie rückblickend Ihre Zeit in der IRA? Haben Sie sich völlig von Ihrer eigenen Vergangenheit distanziert, oder gibt es s noch Dinge, zu denen Sie stehen?
Es gibt absolut nichts, was aus meiner Zeit in der IRA heute noch einen Wert für mich besitzt. Absolut nichts. Der Kampf der IRA basierte auf Lügen und auf enormem Leid, das sehr vielen unschuldigen Menschen zugefügt wurde. Ich blicke mit Entsetzen zurück.
Sie betreiben »irishpeaceprocess«, einen Blog, auf dem Sie die Aktivitäten der IRA im Rahmen des irischen Friedensprozesses untersuchen. Insbesondere gehen Sie dabei auf die Menschenrechtsverletzungen ein, die von diesem einstigen bewaffneten Arm der nordirischen Unabhängigkeitsbewegung begangen wurden, und auf deren Opfer. Auch das kommt nicht bei allen ehemaligen bewaffneten Kämpfern an. Sie wurden zu einem der schärfsten Kritiker der IRA. Sind Sie stolz darauf?
Stolz wäre das falsche Wort. Ich schreibe und blogge, um insbesondere junge Menschen vor der Anwendung von Gewalt zur Erreichung bestimmter Ziele zu warnen. Gewalt ist kontraproduktiv, es gibt viele andere, friedliche und zivile Methoden. Mein Blog ist unglaublich erfolgreich, ich habe bald schon eine Million Leser. Das ist mehr, als ein nicht professioneller Blogger sich normalerweise erhoffen kann.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
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