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- Johannes Spohr: "Die Ukraine 1943/44"
Grenzenlose Grausamkeit
Johannes Spohr über die Gewaltexzesse der deutschen Aggressoren in der Ukraine 1943/44
Obwohl einem historischen Sujet gewidmet, erscheint diese Publikation doch höchst aktuell. Johannes Spohr untersucht Gewalt in der von den Deutschen besetzten Ukraine. Ein Promotionsstipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat ihm ermöglicht, »weite Teile der Arbeit ohne ökonomische Sorgen zu bestreiten«. Er bedankt sich explizit, kollegiale und solidarische Diskussion sowie ideelle Unterstützung bei seiner Dissertation erfahren zu haben, die er an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg verteidigte.
Spohr gebührt das Verdienst, erstmals tiefgründig wie weitreichend am Beispiel der von Nazideutschland okkupierten Ukrainischen Sowjetrepublik, die ein Territorium von 580 000 Quadratkilometer umfasste und 41 Millionen Einwohnern zählte, das Wesen des faschistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieges bloßzulegen. Er berichtet über den Massenmord an Juden, Slawen, Roma und Sinti, die Verschleppung und Vertreibung von Millionen Menschen, darunter zur Zwangsarbeit nach Deutschland, sowie Raub und Plünderung. 80 Prozent der Industrie des Landes wurden von den Okkupanten zerstört, die Getreideerträge der einst als Kornkammer der UdSSR geltenden Sowjetrepublik sanken während der deutschen Besatzung auf 40 Prozent. Städte und Dörfer wurden verwüstet. Die Hälfte der überlebenden Ukrainer war nach dem Krieg obdachlos.
Spohr konzentriert sich auf die Jahre des Rückzugs der Wehrmacht im Zuge der Offensiven der Roten Armee 1943/44. Er untersucht das Geschehen im sogenannten Reichskommissariat Ukraine, die Generalbezirke Shitomir, Wolhynien-Podolien, Kiew, Nikolajew, Dnjepropetrowsk und Krim (Teilbezirk Taurien). Der Naziführung ging es angesichts ihrer unausweichlichen Niederlage und dem Verlust ihrer Herrschaftsgebiete nunmehr nur noch darum, »verbrannte Erde« zu hinterlassen, Zivilisten und Kriegsgefangene zu töten oder sie noch bis zur letzten Minute als Arbeitskräfte nach Deutschland zu deportieren, ganze Fabriken auszulagern oder – wenn dies nicht mehr gelang – diese komplett zu zerstören. Der überlebenden Bevölkerung sollten die Existenzgrundlagen auf lange Zeit entzogen werden.
Die zynische Spekulation ging auf. Und obwohl Deutschland den Krieg dank der vereinten Kraft der Alliierten Antihitlerkoalition verlor, gehörten deutsche Unternehmen zu den Kriegsgewinnlern. Der gigantische Raub- und Beutefeldzug in der Sowjetunion hat ihnen gute Startbedingungen für ihre Geschäfte nach dem Krieg verschafft. Die Bundesrepublik avancierte so recht bald zur ökonomischen Hauptkraft innerhalb der westeuropäischen Staaten. Nachkriegswestdeutschland wies im europäischen Vergleich den höchsten Lebensstandard auf. Und mehr noch: Ein beträchtlicher Teil der nazifaschistischen Elite übernahm alsbald wieder Machtpositionen, wie etwa Hermann Otto Bräutigam, in der NS-Zeit im Auswärtigen Amt als auch im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete tätig und 1954 Leiter der Ostabteilung des bundesdeutschen Außenministeriums, ebenso Generalmajor Reinhard Gehlen von »Fremde Heere Ost«, Gründer des Bundesnachrichtendienstes, oder Hans Globke, 1935 Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und später Staatssekretär des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer.
Spohrs Buch bestätigt und vertieft, dass in der Sowjetunion, vornehmlich in der Ukraine, die Massenvernichtung des Judentums in grenzenloser Grausamkeit praktiziert wurde. Es widerlegt die lange Zeit vorherrschende Auffassung, Auschwitz sei »alleinige Chiffre der Shoah«, wie in der Einleitung vermerkt. Ganz anders motiviert waren die nazideutschen Eroberungen und Besatzungsregimes im westlichen, teilweise auch im östlichen Europa. Es gab zwar auch Massenmorde im besetzten Frankreich und in der Tschechoslowakei, aber in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion, vor allem in Russland, Belorussland und der Ukraine, gab es Tausende Oradours und Lidices.
Spohr benennt die militärischen, politischen und ideologischen Akteure, vornehmlich jene, die in der Ukraine wüteten: Angehörige der Wehrmacht, der SS, des SD (»Sicherheitsdienstes«), der Einsatzgruppen, der Polizei und Organisationen des deutschen Kapitals. Sie wurden unterstützt durch ukrainische und »volksdeutsche« Kollaborateure. Der Autor zitiert aus Dokumenten zur »Germanisierung« der eroberten Territorien, aus diversen Papieren des »Generalplans Ost«, den Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941, dem »Generalsiedlungsplan« und dem »Kommissarbefehl« vom 6. Juni 1941.
Einkalkuliert waren von den Aggressoren bereits für das erste Kriegsjahr die Vertreibung und Ermordung von 30 Millionen Sowjetbürgern. Mit welcher Intensität und Brutalität dieses Vorhaben nach der Kriegswende bei Stalingrad im Februar 1943 umgesetzt wurde und welche Verhaltenspräferenzen sich dabei herausbildeten, zeigt unter anderem das Beispiel des Generalbezirks Wolhynien, wo zehn Prozent der 2,9 Millionen Einwohner Juden waren, die fast vollständig ausgelöscht wurden. Ermordet wurden 170 000 Zivilisten und 9700 Kriegsgefangene; 76 000 Menschen sind zur Zwangsarbeit verschleppt worden.
Die Publikation entstand auf breiter Quellenbasis. Ausgewertet wurden Archivbestände des Holocaust Memorial Museums in Washington sowie der Bundesarchive in Freiburg i. Breisgau und Berlin-Lichterfelde. Leider bleiben auch in diesem Buch die Arbeiten ostdeutscher und osteuropäischer Historiker unterbelichtet, darunter von DDR-Forschern wie Manfred Schünemann, Gerd König, Werner Röhr und Dietrich Eichholz, die eine Aufsehen erregende, mehrbändige und noch heute als Standardwerk geltende Dokumentenedition zum deutsch besetzten Europa herausgegeben haben; immerhin wird im Literaturverzeichnis auf einige verwiesen. Derzeit betreibt Spohr in Berlin den Archivrecherchedienst »present past« zu Familie und Gesellschaft im Nationalsozialismus.
Johannes Spohr: Die Ukraine 1943/44: Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende. Metropol-Verlag, 558 S., geb., 34 €.
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