Der Mythos der anregungsarmen Schule

Es braucht Konzepte für das Unterrichten im sozialen Brennpunkt - nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Barbara Wenders und Reinhard Stähling unterrichten an der Primus-Schule in Münster und haben ein Buch über das Modellprojekt geschrieben

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 7 Min.

Wie sieht das Umfeld der Schule aus, an der Sie unterrichten?

Barbara Wenders: Unsere Schule liegt in einem sozialen Brennpunkt, wir benutzen diesen umstrittenen Begriff bewusst. Sie ist die einzige Schule in dem von Hochhäusern geprägten Ortsteil Berg Fidel im Süden von Münster, einer ansonsten sehr bürgerlich geprägten Stadt. Die meisten Kinder und Jugendlichen, die hier wohnen, sind vom Leben nicht verwöhnt. Sie haben es in vielerlei Hinsicht schwer, sind unsicher im Gebrauch der deutschen Sprache. Ihre Eltern haben Geldprobleme, sind arbeitslos oder alleinerziehend. Viele Kinder und Jugendliche sind zudem durch Fluchterfahrungen traumatisiert. Aber alle haben ihre persönliche Geschichte und Kultur, und dies versuchen wir konstruktiv beim gemeinsamen Lernen zu nutzen. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Kind morgens behütet und mit einem Frühstück versehen zur Schule kommt oder ob es wegen beengter Wohnverhältnisse nicht gut schlafen konnte, weil es zu laut war. Wir versuchen, die Stärken der Schülerinnen und Schüler zu sehen und das Lernen so zu organisieren, dass es für alle Kinder, die in diesem Stadtteil wohnen, zu Erfolgen führt.

Reinhard Stähling und Barbara Wenders
Reinhard Stähling leitet die Primus-Schule Münster, Barbara Wenders ist Lehrerin für Sonderpädagogik. Gemeinsam haben sie mehrere Praxisbücher verfasst, in denen sie Vorschläge für einen »inklusiven« Schulalltag entwickeln.
Reinhard Stähling
Reinhard Stähling

Ihre Schule ist ein Modellversuch des Landes Nordrhein-Westfalen. Ursprünglich war sie eine reine Grundschule für die ersten vier Jahrgangsklassen. Wie haben Sie es geschafft durchzusetzen, dass die Schülerinnen und Schüler dort nun zehn Jahre lang zusammen unterrichtet werden können?

Barbara Wenders
Barbara Wenders

Reinhard Stähling: 2010 hat unsere Schulkonferenz einen Antrag gestellt, die Grundschule bis zum Schulabschluss zu verlängern. Dieser Bruch nach Klasse vier war immer eine Barriere, die wir endlich überwinden wollten. Eine aktive Elterninitiative hat dann richtig Druck gemacht. 2012 kam ein Film über unsere inklusive Schule in die Kinos, im gleichen Jahr haben wir ein Buch herausgebracht und einen Kongress veranstaltet. 300 Interessierte aus ganz Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland kamen nach Münster und unterstützten uns, es war eine Aufbruchstimmung. Das Ministerium fand dies bemerkenswert und wollte dann eine komplett neue Schulform gründen. Primus heißt Primar- und Sekundarstufen in einer Schule unter einer Leitung, seither unterrichten wir bis zum zehnten Jahrgang.

Welche Bildungserfolge haben Sie durch das längere gemeinsame Lernen erreicht?

Stähling: Dass wir die Kinder über so viele Jahre zusammen in einem solidarischen Geiste unterstützen und ihre eigenen Potenziale wecken, statt sie in verschiedenen Schulformen getrennt zu unterrichten, zeigt Wirkung. Unsere Zehntklässler übertrafen bisher fast alle die ihnen gestellten Bildungsprognosen, sie erreichten höhere Abschlüsse, als man ihnen zugetraut hatte.

Die Coronakrise hatte und hat drastische Auswirkungen auf die Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen. Schulschließungen und Distanzunterricht führten dazu, dass ohnehin Benachteiligte weiter abgehängt wurden. Welche Erfahrungen haben Sie als Lehrende in der Pandemie gemacht?

Stähling: Brennpunktstadtteile haben überall eine mehrfach höhere Inzidenz als die bürgerlichen Viertel. Wer in engen Wohnverhältnissen lebt, steckt sich einfach schneller an. Einige unserer Kinder mussten mehrmals hintereinander in Quarantäne, weil Verwandte infiziert wurden. Den Armen ist nur geholfen, wenn die Pandemie eingedämmt wird.

Wenders: Dass es um die Bildungschancen vieler Kinder und Jugendlicher nicht gut steht in Deutschland, wird durch die Folgen von Corona besonders deutlich. Unser Kollegium hat einen Kaltstart in Sachen Digitalisierung hingelegt, und damit waren wir ziemlich erfolgreich. Wenn auch nicht alle Schülerinnen und Schüler erreicht werden konnten, trotz Telefonaten und Hausbesuchen: Der größte Teil hat sich nicht vergessen gefühlt.

Die immer wieder verlängerten Lockdowns machten die »feinen Unterschiede«, wie sie der französische Soziologe Pierre Bourdieu genannt hat, zwischen verschiedenen Milieus sichtbar. Was können Sie gegen die wachsende soziale Ungleichheit an den Schulen tun?

Wenders: Wir können die »feinen Unterschiede« nicht wegzaubern. Die gibt es, und genau deshalb finde ich, Schule muss solidarisch sein. Es bringt nichts, als Lehrerin Vergleiche anzustellen oder zu jammern, dass die Kinder immer schwieriger werden. Das stimmt ja auch gar nicht. Jedes Kind ist, wie es ist, und hat das Recht, an der Stelle weiterzulernen, wo es steht.

Stähling: Wir haben von Beginn an versucht, die Ausbreitung des Virus zu reduzieren. Das gelang, indem wir die Kinder nur in ihren Klassengruppen ließen und nicht mit anderen Klassen mischten. Auch andere übergreifende Arbeitsgemeinschaften und Angebote haben wir ersetzt durch die Arbeit nur in der Klasse. Wenn sich dann dort eine Infektion zeigte, waren die anderen Klassen kaum betroffen. Die Schule musste nicht geschlossen werden. Als Nebeneffekt wuchs die Klassengemeinschaft stärker zusammen und unterstützte sich.

Schulen in Brennpunktvierteln werden als »anregungsarm« bezeichnet. Was kritisieren Sie an dieser Zuschreibung?

Stähling: Wer Worte wie bildungsfern und anregungsarm benutzt, muss sich fragen lassen, ob er jemals in einem Brennpunkt ernsthaft mit den Kindern, Jugendlichen und Familien gesprochen hat. Wer kein eigenes Kinderzimmer hat, keinen Internet-Anschluss oder Computer, kein gesundes Essen kauft, nicht schwimmen kann, sich keine Busfahrkarte leisten kann oder nicht Deutsch spricht, macht das nicht, weil er zu wenig Anregungen dazu bekommt. Das zu behaupten ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen dort. Sie leben schlicht in Armut und können sich nichts leisten. Wenn die Schule keine gesunde Bio-Mahlzeit oder keine guten Buntstifte bereithält, wer soll es bezahlen? Wenn die Schule nicht das Schwimmen beibringt, wer dann? Etliche Eltern wollen die staatliche Unterstützung für das Mittagessen in der Schule beantragen, aber selbst wenn sie von Sozialarbeitern unterstützt werden, dauert die Bearbeitung der Anträge häufig so lange, dass das Geld nicht rechtzeitig eintrifft.

Ihre pädagogischen Konzepte beruhen auf Ideen des brasilianischen Lehrers Paulo Freire, der für Lateinamerika eine »Pädagogik der Unterdrückten« entwickelt hat. Was ist das Besondere an diesem Ansatz?

Stähling: Freire ist vor allem bekannt für seine erfolgreichen Alphabetisierungskampagnen. Die Lösung von sozialen Problemen wurde damit verbunden, die Schriftsprache zu lernen. Freire hat sich gegen die »kulturelle Invasion« der ehemaligen Kolonialherren gewandt. Von ihm können wir lernen, die Menschen mit ihren Fragen und Problemen wirklich ernst zu nehmen. Wer als geflüchtete Familie in Armut lebt und wessen Vorfahren vielleicht Opfer des Kolonialismus sind, kommt in unsere Schulen, um dort einen verlässlichen und sicheren Rahmen vorzufinden: keine Gewalt, kein Hunger, keine Krankheit, sondern Hilfe und Bildung für die Kinder.

Was sind die »verborgenen Stärken« von benachteiligten Kindern und Jugendlichen, die Sie wecken wollen?

Wenders: Die Kinder im Brennpunkt sind stark in der gemeinsamen Erfahrung, dass ihnen nichts geschenkt wird. Sie halten in der Regel zusammen. Sie tragen kulturelle Schätze in sich. Einige können auch wütend und verweigernd sein, wenn diese Schätze nicht geachtet und respektiert werden. Zum Beispiel die Muttersprache, die sie sprechen, oder die Musik, die sie hören. Oder Rituale und Religionen, die sie mitbringen. Kinder und Jugendliche haben ein feines Gespür dafür, ob man sie ernst nimmt oder nur so tut als ob - und hinterher schlecht über sie spricht. Die pädagogische Arbeit hier macht sehr viel Spaß, dieser hört allerdings auf, wenn keine öffentliche Unterstützung erfolgt. Ungleiches muss ungleich behandelt werden, nur das ist gerecht.

Wie kommen Ihre praxisorientierten Konzepte in wissenschaftlichen Fachkreisen an? Gibt es da Differenzen?

Stähling: Das überholte Paradigma des »anregungsarmen Lernmilieus« in einer Brennpunktschule wird in der Forschung inzwischen hinterfragt. Man spricht in Fachkreisen stattdessen von »erwartungswidrig guten Schulen«. Das bedeutet ja, dass man etwas überraschend Neues entdeckt hat. Indem wir dies anders bewerten, ändern sich auch die Versuche der Problemlösung.

Ihre Arbeit ist mittlerweile bundesweit bekannt. Sind Sie zum Vorbild geworden, werden die Ideen anderswo aufgegriffen?

Stähling: Wir werden viel angefragt von Schulen, die einen neuen Aufbruch wagen wollen. Unsere Besucher kommen aus ganz Deutschland und auch aus den Nachbarländern. Wir stehen im ständigen Kontakt mit anderen Schulen, von denen wir lernen können.

Wenn Sie die gesellschaftliche Utopie eines künftigen Bildungssystems entwerfen, das benachteiligte Kinder und Jugendliche nicht mehr ausgrenzt, sondern fördert und integriert: Welche Vorschläge und Forderungen richten Sie an die Politik?

Stähling: In jedem sozialen Brennpunkt eine Schule von der ersten bis zur zehnten Klasse, eine durchgehende Schule vom Anfang bis zum Abschluss unter einer Leitung. Eine Schule ohne Brüche, die nicht aussondert ...

Wenders: ... sondern mit allen Kindern des wohnortnahen Umfeldes solidarisch verbunden ist.

Reinhard Stähling und Barbara Wenders: Worin unsere Stärke besteht. Eine inklusive Modellschule im sozialen Brennpunkt. Psychosozial-Verlag, 520 S., br., 54,90 €.

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