Keine Veränderungen ohne Guillotine

Die Künstlerin Brigitte Maria Mayer inszeniert in Tübingen das Stück »Quartett« ihres Mannes Heiner Müller - ein Gespräch

  • Dorte Lena Eilers
  • Lesedauer: 7 Min.
Szene aus »Quartett«: »An Heiner habe ich immer geschätzt, dass er null patriarchal war«, sagt Brigitte Maria Mayer.
Szene aus »Quartett«: »An Heiner habe ich immer geschätzt, dass er null patriarchal war«, sagt Brigitte Maria Mayer.

Sie arbeiten seit vielen Jahren äußerst erfolgreich als Fotografin, Filmemacherin und Produzentin. Am Samstag allerdings feiern Sie ein Debüt: Zum ersten Mal inszenieren Sie mit »Quartett« von Heiner Müller, Ihrem früheren Ehemann, ein Stück auf einer klassischen Theaterbühne, dem Landestheater Tübingen. Dem »Spiegel« sagten Sie kürzlich, der Theaterbetrieb habe Sie lange Zeit regelrecht angeödet. Was hat Sie dazu verführt, Ihre Meinung zu ändern?

Brigitte Maria Mayer
Brigitte Maria Mayer ist Fotografin und Filmemacherin, die sich in ihren Werken unter anderem mit Mythologie und Fragen der sexuellen Identität auseinandersetzt. In den 90er Jahren war sie mit dem DDR-Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) verheiratet, mit dem sie eine gemeinsame Tochter hat. Die Inszenierung seines Stücks »Quartett«, das er 1980 verfasst hat, am Landestheater Tübingen ist ihr Bühnendebüt als Regisseurin.

Eigentlich ist die Theatersehnsucht über die Jahre immer geblieben. Damals, als ich mit Heiner zusammen war, hat mich vor allem die Schlussphase am Berliner Ensemble abgeschreckt.

Die Gemeinschaftsintendanz von Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Peter Palitzsch, Peter Zadek und Heiner Müller, deren Konstellation sich wegen zahlreicher Konflikte ständig änderte.

Ja. Die Institution war auch sehr männlich besetzt. Da wollte ich erst einmal möglichst weit weg und nur noch frei arbeiten. 2019 traf ich dann in der Kunsthalle Tübingen bei einer Ausstellung, an der ich beteiligt war, den Intendanten des dortigen Landestheaters, Thorsten Weckherlin, der früher am Berliner Ensemble Leiter des Tourneetheaters war. Irgendwann, wir saßen gerade bei einem Getränk zusammen, sagte ich zu ihm: »Weißt du was? Ich würde gerne ›Quartett‹ inszenieren. Gib mir die kleinste Bühne, die du zur Verfügung hast.« Und er gab mir netterweise die Werkstatt.

Die mittelgroße Bühne. Demnach war es eine Initiative von Ihnen?

Ja. Und ich muss sagen: Es hat mich wieder voll erwischt. Das Theater nimmt ja immer den ganzen Menschen - das ist das Schöne daran.

»Quartett«, dieses an Choderlos de Laclos’ Briefroman »Gefährliche Liebschaften« angelehnte Stück, gehört zu den meistinszenierten Werken Heiner Müllers. Es ist eine Art klaustrophobisches Kammerspiel, situiert in einem Salon vor der Französischen Revolution sowie in einem Bunker nach dem dritten Weltkrieg, das von der Wiederbegegnung zweier Menschen erzählt, Merteuil und Valmont, bei denen man nie weiß, ob sie sich lieben oder hassen. Warum haben Sie gerade dieses Stück gewählt?

Mehrere Dinge haben mich gereizt. Zum einen diese Art der toxischen Beziehung, die ich selbst privat über zehn Jahre mit einer Frau geführt habe. In solchen Beziehungen zeigt man sich Liebe über Verletzungen. »Jedes Wort reißt eine Wunde«, heißt es gleich zu Beginn von »Quartett«. Da sind zwei Menschen, die sich nacheinander sehnen, aber nicht zueinanderkommen. Nur durch Verletzungen können sie einander spüren.

Zum anderen hat mich der Ursprung eines solchen Verhaltens interessiert. Oft liegen dem ja frühe Missbrauchserfahrungen zugrunde. Wenn man in das Stück genauer hineinliest, entdeckt man eine Passage von Merteuil, in der sie beschreibt, wie sie als junges Mädchen vergewaltigt wurde. »Was ich fürchte, ist die Nacht der Leiber«, sagt sie.

»… wenn es mir die Seide von den Schenkeln reißt und wirft sich auf mich wie Erdschollen auf den Sarg.«

Eine ähnliche Stelle fand ich auch bei Valmont. Es geht also um Trauma und Wiederholung. Diese ganzen Spielereien zwischen Merteuil und Valmont - die bei mir sogar ein bisschen in den Fetisch hineinreichen - sind inszenierte Wiederholungen des Traumas. Man hat Freude daran, andere der Hilflosigkeit auszusetzen, die man selbst erlebt hat.

Es existiert eine Jetzt-Zeit und eine Trauma-Zeit. Die Trauma-Zeit ist wie ein Gefängnis. Diese Menschen verhalten sich nicht so, wie sie denken, dass sie eigentlich sind. Mich hat interessiert, wie daraus ein Drive entsteht, der am Ende tödlich ist. Man stelle sich vor, in der Pandemie-Zeit - man darf nicht mehr raus, die beiden nehmen ständig Drogen, kommen nicht mehr voneinander los. Was passiert? Das Spiel, das zunächst positiv konnotiert war, wird nur noch böse, der Einsatz immer härter. »Und was der Pöbel Selbstmord nennt, ist die Krone der Masturbation.« Tödliche Sexspiele. Es ist der letzte tödliche Besuch, das letzte Abenteuer.

Der Tod scheint in diesem Verhältnis sowieso der Referenzpunkt jeglicher Erotik zu sein. Es geht ständig um das Altern, um die Angst, dass der Körper zur Lust irgendwann nicht mehr fähig ist - oder, schlimmer noch, auf dem Markt der Liebe einfach aussortiert wird. Nicht das Begehren scheint der Motor erotischer Beziehungen zu sein, sondern der furchtgetriebene Gedanke, noch möglichst viele Liebschaften zu haben, bevor es zu spät ist.

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist einfach auch keine, in der man leicht alt wird. Der Kapitalismus beruht auf der ewigen Jugend. Nicht auf dem ewigen Leben - auch das hätten alle natürlich gern, aber keiner möchte ewig 80 sein, sondern lieber ewig 20.

Stattdessen lehrt der Kapitalismus, seit er keinen echten Gegner mehr hat, immer schamloser zu lügen. Ich wäre jetzt zum Beispiel ein »Best Ager«. Man gibt dem, was mehr oder minder aussortiert wird, einfach einen Namen. Wenn man überhaupt noch am Kapitalkreis teilnehmen kann. Sowieso scheint es nur noch Zielgruppenbezeichnungen zu geben. Merteuil und Valmont jedenfalls werfen sich ständig gegenseitig ihr Alter vor. »Was sagt Ihr Spiegel?« Interessant finde ich vor diesem Hintergrund das Machtsystem, das sie sich in Form des Jungfrauenhandels aufgebaut haben.

Sie bieten dem jeweiligen Gegenüber junge Frauen beziehungsweise Männer an.

Genau. Mich hat das an Ghislaine Maxwell und Jeffrey Epstein erinnert.

Den US-Multimillionär und seine Partnerin, beide unter anderem wegen sexuellen Menschenhandels mit Minderjährigen verurteilt. Epstein beging 2019 in Haft Selbstmord.

Ein solches System des Jungfrauenhandels konnte ja nur über Jahrzehnte funktionieren, weil es von den Mächtigen, an die diese Mädchen verkauft wurden, gedeckt wurde. Gleichzeitig waren es meist Mädchen aus ärmeren Schichten.

Auch Merteuil und Valmont gehören aufgrund ihres ökonomischen Status zu den Mächtigen. Und auch damals gab es adlige Familien, die wenig Geld hatten und ihr siebtes, achtes Kind entweder ins Kloster steckten oder an ältere Herren verkauften. Das Stück behandelt also auch das noch heute virulente Thema Klasse. Volange, die Jungfrau, »Nichte« der Merteuil, habe ich doppelt besetzt mit einem Mädchen und einem Jungen, beide 15 Jahre alt, die nur an den Stellen per Video eingespielt werden, an denen sich Merteuil und Valmont an ihren Missbrauch erinnern. Die Videos, die mit katholischen Riten spielen, verweisen auf die katholische Kirche und ihre lange Historie des Missbrauchs. Die Tourvel, die Vierte im Bunde von »Quartett«, ist eine »Trophy Wife«, die Frau des »Präsidenten«, eine Frau mit sozialer Reichweite. Sie wird, nachdem sie unter der Regie von Merteuil mit Valmont fremdgeht, sozial hingerichtet, also auf Instagram, wobei ich das nur andeute. Aber die Angriffe auf Frauen im Internet zu thematisieren, war mir wichtig, da ich selbst davon betroffen war.

Sie sprachen eingangs von den patriarchalen Strukturen im Theaterbetrieb. Nach wie vor ein viel diskutiertes Problem. Sie sind damals dem Betrieb entflohen. Aber ließe er sich auch ändern?

An Heiner habe ich immer geschätzt, dass er null patriarchal war. Geschlechterrollen gab es bei uns nicht. Schlimm war das Umfeld am Berliner Ensemble. Ich hatte damals keine Lust, meine Kraft auf diese Art zu vergeuden. Hier in Tübingen beispielsweise herrscht ein gänzlich anderes Klima!

Aber ob sich das System insgesamt verändern ließe? Ich glaube schon. Ich bin mir nur nicht sicher, ob diejenigen, die gedenken, das System zu verändern, nicht genauso handeln würden, sobald sie an der Macht sind. Darüber reden ist eine Sache, Macht in der Hand zu haben, eine andere. Die wenigsten lernen, damit umzugehen. Darin stimme ich Heiner zu: Macht nutzt sich ab, wenn man sie gebraucht. Herrschen ist bedauerlicherweise geschlechtsneutral. Aber die junge Generation im Theater hat sowieso ganz andere Themen. Wo es früher um soziale Gerechtigkeit und die Anbindung an den Mythos ging, geht es heute mehr um die Gerechtigkeit einzelner Gruppen. Hier und da wird auch hart zugeschlagen, aber jede Veränderung kommt in gewisser Weise erst einmal mit der Guillotine. Insofern weiß ich nicht, ob ich etwas raten kann. Das Einzige, was ich immer denke, ist: Weniger Ideologie, mehr Kunst. (lacht)

Haben Sie Lust bekommen, weiter am Theater zu arbeiten?

Ja, ich befürchte, schon.

Nächste Vorstellungen: 12.2., 15.2., 16.2., 25.2.

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