Hunger durch Naturschutz?

Eine massive Ausweitung von Schutzgebieten begrenzt nicht nur die Nahrungsmittelproduktion, sie könnte auch Indigene vertreiben

  • Norbert Suchanek
  • Lesedauer: 6 Min.
Anders als in der modernen Landwirtschaft nutzen indigene Völker auch artenreiche Ökosysteme, ohne sie in großflächige Monokulturen zu verwandeln. Bei der Einrichtung von Schutzgebieten wird das oft vergessen.
Anders als in der modernen Landwirtschaft nutzen indigene Völker auch artenreiche Ökosysteme, ohne sie in großflächige Monokulturen zu verwandeln. Bei der Einrichtung von Schutzgebieten wird das oft vergessen.

Auf der UN-Biodiversitätskonferenz im kommenden April in Kunming sollen neue Biodiversitäts-Ziele beschlossen werden. Eine der vorgeschlagenen Maßnahmen ist die Verdoppelung der bestehenden Naturschutzgebiete weltweit auf mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen bis 2030. Diesem von der internationalen Allianz für Biodiversität (High Ambition Coalition for Nature and People) geforderten Artenschutzziel haben sich bereits 50 Staaten angeschlossen, darunter auch Frankreich und Deutschland. Doch würde diese Maßnahme tatsächlich umgesetzt werden, könnte dies die Ernährungssicherheit in weiten Teilen der Welt gefährden, warnen nun Forscher aus Schottland, Deutschland, Österreich und den USA. Besonders in armen Regionen des Globalen Südens würden sich vorhandene Probleme verschärfen.

Die dieser Tage im Fachblatt »Nature« veröffentlichte Studie untersucht zwei Szenarien: Im ersten werden bis 2040 30 Prozent der globalen Landfläche unter Schutz gestellt, im zweiten Szenario 50 Prozent. Die Forscher gehen dabei von der Annahme aus, dass in den Schutzgebieten keinerlei menschliche Aktivitäten wie Landwirtschaft oder Tourismus erlaubt sind. In vielen Anbaugebieten wäre deshalb Landwirtschaft nicht mehr möglich - mit negativen Konsequenzen für die globale Nahrungsmittelproduktion bei weiter wachsender Bevölkerung.

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Die Ausweitung der Naturschutzgebiete führe laut Studie zu einer Intensivierung landwirtschaftlicher Produktion auf den verbleibenden Flächen, was steigende Lebensmittelpreise zur Folge hätte. Der Verzehr von Obst und Gemüse würde sich verringern, und insgesamt würde die Zahl der untergewichtigen Menschen in verschiedenen Regionen der Welt wachsen.

Den Berechnungen der Forscher zufolge würde dies in einkommensschwachen Regionen wie Südasien und Subsahara-Afrika zu Nahrungsmittelengpässen und zusätzlichen 200 000 Toten durch Mangelernährung führen. Das strikte Umsetzen von Schutzmaßnahmen beeinträchtige die Ernährungssicherheit und Gesundheit von Menschen besonders in den »verwundbarsten Weltregionen«, schreibt das Wissenschaftlerteam.

Umgekehrt würden wohlhabendere Länder wie die USA oder die Staaten der Europäischen Union weitgehend von den negativen Auswirkungen verschont bleiben. In diesen Ländern würde eine Verringerung des Kalorienverbrauchs durch höhere Nahrungsmittelpreise im Gegenteil sogar zu einer Verringerung der negativen Auswirkungen von Übergewicht und Fettleibigkeit führen.

Nach Ansicht von Matin Qaim, Direktor am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, sei der wichtigste Beitrag der Studie »das Aufzeigen von potenziellen Zielkonflikten zwischen globaler Ernährungssicherung und dem Schutz der Biodiversität, weil die Ausdehnung von Landflächen für die Nahrungsproduktion der größte Killer der natürlichen Artenvielfalt ist«.

Dem Vorhaben, möglichst weite Flächen unter Naturschutz zu stellen, wolle man sich mit der Studie jedoch keineswegs entgegenstellen. »Die Ausweisung von Schutzgebieten gehört zu den wichtigsten Instrumenten zum Erreichen der Biodiversitätsziele. Sie muss aber mit Bedacht umgesetzt werden, um sicherzustellen, dass sie die Ernährungssicherheit und Gesundheit der Bevölkerung nicht gefährdet, insbesondere in den ärmeren Regionen der Welt«, erläutert Studien-Erstautorin Roslyn Henry von der Universität von Aberdeen.

Laut Martin Jung vom Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien, der gleichfalls an der Studie mitarbeitete, gilt es zu beachten, dass sehr radikale Maßnahmen auch zu unerwünschten Auswirkungen führen können. Es brauche eine breite Zusammenarbeit, um Naturschutz jeweils regional sinnvoll umzusetzen.

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Die mithilfe gekoppelter sozio-ökologischer Modelle erstellte Forschungsarbeit steht allerdings auf wackligen Füßen. Sie basiert lediglich auf zwei Grundannahmen. Erstens, dass der Schutz artenreicher Landschaften automatisch zu einer Verringerung der landwirtschaftlichen Nutzflächen führt. Und zweitens, dass die dadurch steigenden Nahrungsmittelpreise zu einer Veränderung der Nahrungsgewohnheiten der Menschen in den »reicheren« Ländern des Nordens sowie in den »ärmeren« Staaten des Südens führen.

Doch würde man beispielsweise - wie von vielen Klima- und Umweltschützern gefordert - alle verbliebenen artenreichen Regenwälder Amazoniens und die noch nicht vernichteten Cerrado-Gebiete Brasiliens als Naturschutzgebiete deklarieren, so würde dies nicht zu einer Verringerung landwirtschaftlicher Nutzflächen führen. Eine Unterschutzstellung würde lediglich verhindern, dass diese Hotspots der Artenvielfalt für die Ausweitung von Rinderzucht oder Sojabohnenanbau abgeholzt oder für den Erz- und Rohstoffabbau umgegraben werden. Das Gleiche gilt für die noch nicht gerodeten Regenwälder Zentralafrikas, Südasiens, Neuguineas und der Pazifikregion.

Die Studie berücksichtigt auch nicht die Besorgnis, dass eine Ausweitung von Natur- und Nationalparks zur Vertreibung, Verarmung bis hin zum Genozid indigener Völker oder anderer traditionell in diesen Gebieten lebender Bevölkerungsgruppen führen kann. Eine Sorge, die in der Praxis bestehender Nationalpark-Konzepte Nahrung findet. Lisa Biber-Freudenberger vom ZEF bemängelt, dass die Autoren der Studie davon ausgehen, dass die Schutzgebiete nicht mehr vom Menschen genutzt werden. Doch »der Ansatz, dass Schutzgebiete ohne Einbeziehung der lokalen Bevölkerung eingerichtet werden, hat sicherlich ausgedient.«

Laut der High Ambition Coalition for Nature and People sollten die neuen Naturschutzgebiete zwar »unter Anerkennung der Rechte indigener Völker« eingerichtet werden, doch Menschenrechtsorganisationen halten dies eher für ein Lippenbekenntnis, das letztlich nicht oder nur unzureichend umgesetzt werde. Deshalb warnen Organisationen wie Survival International und Minority Rights Group schon seit 2020 vor der Umsetzung des von konservativen Naturschützern geforderten 30-Prozent-Ziels.

Die Ausweitung und Schaffung neuer Naturschutzgebiete könnte zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen und einigen der ärmsten Menschen der Welt unumkehrbaren Schaden zufügen, so Survival International. »Bis zu 300 Millionen Menschen könnten betroffen sein, wenn die Rechte indigener Völker und traditioneller Landbesitzer nicht wesentlich besser geschützt werden.« Darüber hinaus verweist die Menschenrechtsorganisation darauf, dass eine starre und rücksichtslose Durchsetzung des Naturschutzziels die Menschen vor Ort gegen den Naturschutz aufbringen und somit die Umweltzerstörung sogar beschleunigen könne. Der »30×30-Plan« sei ein grundsätzlich falscher Naturschutzansatz, weil er auf einem den Menschen ausklammernden Wildniskonzept beruhe, dem bereits in der Vergangenheit zahlreiche indigene Völker zum Opfer gefallen seien.

»Die Forderung, 30 Prozent der Erde zu ›Naturschutzgebieten‹ zu erklären, ist in Wirklichkeit eine gigantische Landnahme, vergleichbar mit der europäischen Kolonialisierung. Sie wird ebenfalls viel Leid und Tod mit sich bringen«, befürchtet Stephen Corry, Direktor von Survival International. »Wir sollten uns nicht von dem Rummel der Naturschutz-NGOs und ihrer staatlichen Geldgeber täuschen lassen.« Es gehe hierbei nur um Geld, um die Kontrolle von Land und Ressourcen und um einen Angriff auf die kulturelle Vielfalt.

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