Nähe unter Fremden

Rebana Liz John befragt in ihrem Film »Ladies Only« Frauen in Damenabteilen von indischen Zügen nach ihren Wünschen, Träumen und Problemen, die sie wütend machen

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 7 Min.

Rebana Liz John wurde 1986 in Mumbai geboren. Sie studierte Digital Video Production an der Srishti Schule für Kunst und Design in Bangalore und absolvierte von 2016 bis 2021 ein Postgraduiertenstudium an der Kunsthochschule für Medien Köln. Sie interessiert sich für Experimente im Dokumentarfilm, Kunst im öffentlichen Raum, Animation und Schreiben. »Ladies Only« ist ihr Diplomfilm und wird bei der Berlinale 2022 in der Sektion »Perspektive Deutsches Kino« gezeigt.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm in Frauenabteilen von Zügen in Mumbai zu drehen?

Das war in einer Zeit, in der viel über aktuelle Themen berichtet wurde, die Frauen betreffen, beispielsweise die MeToo-Bewegung. Ich habe viel über Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen gelesen. Das hat mich schon mein ganzes Leben lang bewegt. Zufällig bin ich damals auch wieder auf Fotos gestoßen, die ich zehn Jahre zuvor in Frauenabteilen in Mumbai gemacht hatte. Irgendwie haben mich diese Aufnahmen erneut gefesselt, und ich begann darüber nachzudenken, wie es wäre, diesmal mit der Filmkamera dort hineinzugehen. Als junge Frau bin ich viele Jahre mit diesen Zügen gefahren. Ich wusste, dass das ein Kosmos ist, in dem eine bestimmte Art von Solidarität unter Frauen gelebt wird, obwohl es manchmal auch Streitigkeiten unter ihnen gibt. Es ist ein Raum, in dem Frauen Nähe entwickeln, selbst wenn sie Fremde sind.

Wann haben Sie gedreht?

In vorpandemischen Zeiten, im Sommer 2019. Ich habe Glück gehabt, dass das Material schon gedreht war, als Corona anfing und habe während der Lockdowns geschnitten.

Wie haben die Frauen auf Ihr Filmteam reagiert?

Wir sind mit einem kleinen Team reingegangen. Wenn sie interessiert schienen, haben wir gedreht, sonst nicht. Manche waren begeistert, andere wollten nicht gefilmt werden. Ich hatte Gedichte dabei und bat Frauen, sie vorzulesen. Das war eine Möglichkeit, um an sie heranzukommen.

Welche Art von Gedichten war das?

Die Gedichte stammen von Kamla Bhasin. Leider ist sie letztes Jahr mit Ende 70 gestorben. Sie war Zeit ihres Lebens eine feministische Graswurzel-Aktivistin, setzte sich mit dem Patriarchat und sozialen Themen auseinander. Das tat sie auf eine sehr poetische, schöne, fröhliche Art, obwohl sie selbst mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Die Gedichte sind sehr einfach gehalten, aber transportieren viel Bedeutung. Wir wollten die Texte als Schlüssel nutzen, um die Frauen zum Reden zu bringen.

Was lösten die Gedichte bei den Frauen aus?

Die meisten stimmten mit ihnen überein. Denn die Gedichte sind nicht zu drastisch. In einem geht es um die Freiheit, die Mädchen haben sollten. Es heißt, sie wollen eine Blume sein, ihren Duft verbreiten und nicht zertreten werden. Da steckt viel Symbolik drin. Eine einzige Frau hat vehement widersprochen. Ich denke, es gab auch Frauen, die das Gedicht angesprochen hat, aber die sich damit nicht beschäftigen wollten, weil es zu persönliche Bereiche berührt.

Wie haben Sie die Frauen zum Sprechen ermuntern können?

Oft schon gab das Gedicht einen Anreiz, um die Frauen dazu zu bringen, über ihr Leben zu sprechen. Außerdem hatte ich eine Liste von Fragen, darunter sehr direkte - zum Beispiel: Was macht Sie wütend? Wut war ein Thema, über das ich unbedingt mit ihnen sprechen wollte. Denn wenn man in einer patriarchalen Umgebung lebt, gibt es viele Gründe, wütend zu werden. Gleichzeitig schämen sich viele Frauen für dieses Gefühl. Man kann schnell als hysterisch oder ein bisschen verrückt abgestempelt werden.

Ich habe verschiedene Wege gesucht, die Frauen irgendwie aufzuschließen Mumbai City ist die Bollywood-Stadt, Leute sind Kameras gewohnt. Aber ich wollte tiefer vordringen. Ich denke, ich habe manchmal Grenzen verletzt, aber auf eine freundliche Art. Ich wollte nicht zu direkt, aber auch nicht zu diplomatisch sein. Einige Frauen haben sich geöffnet, andere nicht. Manche fanden Wege zu antworten, ohne zu viel von sich preiszugeben.

Manche Frauen sprechen offen über Wut, andere scheinen sich mit ihrer Situation irgendwie arrangiert zu haben. Wurden Sie von bestimmten Reaktionen überrascht?

Dass Frauen ihre Situation akzeptieren, war für mich nicht überraschend. Das ist etwas, was Frauen in Indien und überall auf der Welt tun. Was mich manchmal überraschte, war die Stärke der Frauen. Viele leben in Umständen, die nicht annähernd ideal sind, aber sie sagen: Mir geht es gut, ich komme damit klar. Ich denke, das ist etwas, wonach ich selbst auch suche. Ich frage mich: Woher kann ich eine solche Stärke nehmen?

Vor allem die jüngeren Frauen im Film wirken sehr ambitioniert und zielstrebig. Sehen Sie da einen Generationswechsel?

Definitiv. Die junge Generation ist anders als die ältere. Überall auf der Welt. In einer Generation beginnen Frauen zu arbeiten, in der nächsten Generation erlangen sie noch mehr Selbstbestimmung. In Indien sind die jungen Frauen definitiv ambitionierter, was ihre Zukunft angeht. Sie sagen, sie wollen »alles«. Und sie haben die Möglichkeit dazu. Das liegt auch an der Art, wie sich die Welt verändert.

Über welche Sorgen sprechen die Frauen?

Die Probleme sind so divers wie die Frauen selbst. In jedem Leben gibt es ein Auf und Ab. In einer patriarchalen Gesellschaft haben Frauen zu kämpfen. Es ist komisch, dass wir in einer so widersprüchlichen Zeit leben, in der sie sich einerseits dafür schämen, zu feminin oder zu »girly« zu sein; wenn sie nicht feminin genug sind, ist es auch schwierig. Ich denke, das ist ein universelles Problem, das mit dem Frausein einhergeht. Ein anderes Problem ist die Beziehung zu Männern. Manche Frau hat einen Mann, der sehr konservativ ist und alles entscheidet. Bei jungen Frauen sind es eher die Eltern, die veralteten Wertvorstellungen anhängen. Und in einer Gesellschaft, in der sich so vieles um die Ehe dreht wie in Indien, kann es auch schwierig sein, wenn man nicht heiraten möchte.

Sie wurden bei der Berlinale in der Sektion »Perspektive Deutsches Kino« als Talent vorgestellt. Wie würden Sie Ihren Regiestil beschreiben?

Ich mache vor allem Dokumentarfilme. Dabei bin ich aber keine neutrale, sondern eine beteiligte Beobachterin. Es ist wichtig, wie die Umgebung auf mich reagiert. In meinem letzten Film »Ships Outside My Window« geht es um meinen Vater, der als Seemann gearbeitet hat. Dabei war die Beziehung zwischen ihm und mir zentraler Bestandteil des Films. Ich möchte keine Filme über mich machen, sondern über die Beziehung zwischen mir als Filmemacherin und den Protagonist*innen. Diese einzubeziehen, ergibt ein realistischeres Bild vom Filmemachen. Ich bin außerdem jemand, der gerne ins Abstrakte geht und dann ins Reale zurückkehrt.

Spielt die Liebe zum Abstrakten eine Rolle bei der Entscheidung, in Schwarz-Weiß zu drehen?

Ja, zu einem gewissen Grad. Ein Grund war, dass der Raum in den Zügen so chaotisch war. Es passiert so viel. Das Licht ändert sich, die Farben auch. Schwarz-Weiß war eine Möglichkeit, den Raum zu zentrieren und eine Art Zusammenhalt herzustellen. Ein anderer Grund war, dass ich den Blick auf Indien etwas verschieben wollte. Leute sprechen immer darüber, wie schön bunt es dort ist. Das ist wahr, es ist ein farbenfrohes Land. Aber ich wollte diesen exotischen Blick ablenken und sagen: So ist es wirklich.

Sie stammen selbst aus Mumbai und haben in Köln an der Kunsthochschule für Medien studiert. Haben die Jahre in Europa Ihren Blick auf Indien verändert?

Ja, ich denke schon irgendwie. Die Frauenabteile in den Zügen sind etwas, mit dem ich vertraut bin. Ich bin damit aufgewachsen. Ich gucke nun mit einem nostalgischen Blick darauf. Vielleicht würde sich das anders anfühlen, wenn ich noch in Indien leben würde. Vielleicht hätte es dann keinen so großen Wert, wie es jetzt für mich hat.

Könnten Sie sich vorstellen, so einen Film in Deutschland zu machen?

Das haben mir schon einige Leute vorgeschlagen. Ich denke aber, dass das schwierig wäre, weil die Menschen reservierter sind, was Kameras angeht. Auch die Gesetze sind in Deutschland strenger, was Dokumentarfilme betrifft. Trotzdem wäre es interessant, weil ich in Deutschland eine Außenstehende bin. Ich stehe irgendwo dazwischen, was mir eine besondere Perspektive auf beide Kulturen eröffnet.

»Ladies only«, Deutschland 2022. Regie: Rebana Liz John. 15.2., 18.45 Uhr und 18.2., 14 Uhr: Kino International; 16.2., 14.30 Uhr: Cubix 6; weitere Termine: www.berlinale.de
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