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Die Welt im Argen
Ohne Erinnerung gibt es keine Erlösung: Die Linke und die Religion - eine Replik
Die politische Linke war mal gegen Religion, hieß es unlängst in dieser Zeitung. Und dass die Linke früher gewusst habe, dass »Fortschritt nur gegen die Religion und ihre Vorbeter und Priester erreicht werden kann«. Karl Marx sei davon überzeugt gewesen.
Und ganz unrecht hat der Autor Frank Jöricke nicht (»Der Kampf um die Köpfe«, »nd.DieWoche« vom 24.12.21). Denken wir nur an das anderthalb Jahrtausende währende Bündnis von Thron und Altar. Denken wir an all die Pfarrer im Deutschen Kaiserreich, die von der Kanzel herab die Sozialdemokratie verteufelt und gleichzeitig jeden Waffengang gesegnet haben. Militärseelsorge als Appendix der imperialistischen Durchhaltepropaganda. Nicht vergessen sei auch die Rolle des völkischen Protestantismus bei der Errichtung der Nazidiktatur. Die evangelische Glaubensbewegung Deutsche Christen verstand sich als »SA Jesu Christi«.
Und überhaupt, in Westdeutschland haben Evangelikale noch 1965 eine Bücherverbrennung organisiert. Der Scheiterhaufen am Düsseldorfer Rheinufer war sogar angemeldet, beim Amt für öffentliche Ordnung. Vergessen wir auch nicht die Geschichte der kirchlichen Zwangserziehungsheime - in der Bundesrepublik Deutschland neben der Verfolgung Homosexueller das größte Unrecht, das Menschen angetan wurde. Der aktuelle Missbrauchskandal bei den Katholiken macht einen sprachlos. Deshalb sollen die Institution Kirche und ihre Privilegien hier auch gar nicht verteidigt werden.
Die Gleichsetzung aber von Religion und Kirche, wie sie Jöricke in seinem Text betreibt, greift zu kurz. Er schreibt: »Die Religion verhinderte, dass Menschen gegen Elend und Willkür aufbegehrten.« Und was ist mit Martin Luther King? Ernesto Cardenal? Dietrich Bonhoeffer? Ein Thomas Müntzer wollte ganz sicher keinen Aufstand verhindern, das steht mal fest. Vor bald 500 Jahren sind die Menschen zu Tausenden nach Allstedt geströmt, um seine Predigten zu hören! Der »Theologe der Revolution« (Bloch) hat aus seinem christlichen Glauben heraus das Recht auf Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit postuliert. Und die Bauern, die ihm folgten und für ihre alten Rechte in die Schlacht zogen, sangen Martin Luthers »Ein feste Burg ist unser Gott!«.
Der Glaube gab ihnen Mut. Dass die Kirche ihren Mördern half, sei nicht bestritten. Die dunkle Seite der Reformation: Mit Billigung Luthers wurden im Bauernkrieg 1524/25 von den Söldnerheeren der Fürsten etwa 70 000 Menschen regelrecht abgeschlachtet - diese Toten sind in der Erinnerungskultur der evangelischen Kirche heute vergessen.
Ein jüdisches Sprichwort, das dem berühmten Rabbi Baal Shem Tov (1698-1760) zugeschrieben wird, sagt: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil; das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.« Das Bewusstsein von der eigenen Geschichte ist ein zentraler Bestandteil jüdischer Identität. Ohne die im Judentum tief verwurzelte Erinnerungskultur hätte diese Religion wohl kaum 2000 Jahre Diaspora überstehen können. Keine Zukunft ohne Herkunft!
Und auch für die Linke wird es ohne Erinnerung keine Erlösung geben. Das schließt die Erinnerung an eine Zeit mit ein, als diese Zeitung unablässig Gehässigkeiten gegen Kirche und Glauben druckte. Im Jahr 1976 sind sogar drei Menschen ins Gefängnis geworfen worden, die gegen einen antikirchlichen Artikel im »Neuen Deutschland« protestiert hatten, gegen die Diffamierung des Pfarrers Oskar Brüsewitz, der an den Folgen einer öffentlichen Selbstverbrennung gestorben war. Einer der Inhaftierten nahm sich das Leben, die zwei anderen wurden 1978 vom Westen freigekauft. Jöricke aber blendet die DDR-Geschichte aus. Daher sei noch einmal ausdrücklich festgehalten: Die in jenem Staat herrschende Religion war nicht das Christentum.
Eine linke Religionskritik, die Substanz hat, nimmt die theologischen Debatten zum Thema Marxismus vs. Christentum wenigstens zur Kenntnis. Etwa die Argumente des im vergangenen Jahr verstorbenen Tübinger Theologieprofessors Hans Küng. In seinem 1981 erschienen Opus »Existiert Gott?« widmet der bekannte Kirchenkritiker ein ganzes Unterkapitel dem Kommunismus und entdeckt dabei interessante Parallelen zum Katholizismus: Auch der Kommunismus gehe davon aus, dass die Welt im Argen liege und der Erlösung bedürfe.
Auf dem »Höhepunkt der dialektischen Entwicklung« sei eine Offenbarung erfolgt, die für Kommunisten in vier kanonischen Texten niedergelegt sei (von Marx, Engels, Lenin und einer variablen vierten Heilsfigur, je nach kommunistischem Gusto etwa Mao, Stalin oder Trotzki). Diese Offenbarung werde bewahrt, geschützt und ausgelegt vom unfehlbaren Lehramt der Partei, vom Heiligen Offizium des Politbüros und vom obersten unfehlbaren Parteisekretär persönlich.
Aufgabe der Philosophen sei es nicht, dieses Lehrgut zu bereichern, zu vermehren und zu kritisieren, sondern lediglich, die Menschen in der Anwendung der Lehre auf alle Lebensbereiche zu unterrichten und durch Entlarvung von Häresien und Abweichungen für eine »reine Lehre« zu sorgen. Das unfehlbare Lehramt der Partei verdamme Irrlehren öffentlich. Habe es gesprochen, so habe sich der abweichende Irrlehrer zu unterwerfen, Selbstkritik zu üben und seiner Irrlehre abzuschwören. Versäume der Abweichler diese seine Pflicht, werde er ausgeschlossen beziehungsweise exkommuniziert.
So erweise sich die Partei als »Säule und Grundfeste der Wahrheit«, als Bollwerk der Orthodoxie. Dieser orthodoxe Kommunismus sei in seiner Defensive zugleich offensiv missionarisch, so Küng: »Als einzige wahre und allein selig machende Lehre strebt er naturnotwendig danach, sich mit allen Mitteln über die ganze Welt auszubreiten und vom Propagandazentrum aus überall seine Missionare hinzusenden. Außerhalb kein Heil! Erfordert ist: strenge Organisation, blinder Gehorsam, Parteidisziplin. Alles unter dem großen Führer, der beinahe kultisch gefeiert wird mit Ergebenheitsbezeugungen, großen Aufmärschen, Paraden und Wallfahrten zu seinem Grabmal …«
Was Küng und Jöricke ausblenden, ist die kulturgeschichtliche Tatsache, dass der Kommunismus ideengeschichtlich aus dem Christentum hervorgegangen ist.
Was nun die DDR betrifft, so ist auf ihrem Gebiet eine Mehrheitsgesellschaft entstanden, in der das Leben ohne Kirche zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Nicht einmal Sekten respektive neue Freikirchen schaffen es, hier Fuß zu fassen. Die Menschen haben sich an ein Leben ohne Religion gewöhnt. Für den Theologen Wolf Krötke ist das ein ostdeutsches Spezifikum. Der christliche Glaube oder gar Frömmigkeit kommen in den Familien schlicht nicht mehr vor. Bereits die Großeltern, oft sogar die Urgroßeltern, waren nicht mehr in der Kirche, genauso wenig Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen.
Krötke spricht von der »Gottesvergessenheit« der Ostdeutschen, die so tief sei, »dass die Menschen sogar schon vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben«. Selbst die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«, kurz Pegida, haben mit Gott nichts am Hut; sie sind einfach nur Rassisten.
Eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema Religion und Kirche setzt ein gewisses Mindestinteresse voraus, das in der Linkspartei derzeit kaum vorhanden sein dürfte (leider, möchte man hinzufügen). Die BAG Linke Christinnen und Christen gelten als Exoten. Und doch haben viele Menschen - auch Linke - ein Bedürfnis nach Transzendenz. Wenn ein Genosse stirbt, finden sich auf Social Media unzählige Wünsche seiner Freunde und Mitstreiter, ihn eines Tages wiederzusehen. Leben ohne Gott ist einfach, Sterben ohne Gott ist scheiße. Das war nie anders.
Viele Religionskritiker machen es sich zu leicht. Sie rennen offene Türen ein, zu Räumen, die nahezu leer stehen. Nicht an Gott zu glauben, ist heute normal - sich über seine Nichtexistenz zu freuen, ist dumm. Keines der großen Probleme wird ohne Gott besser. Nicht die Klimakatastrophe, nicht das Elend der Geflüchteten in den polnischen Wäldern und auch nicht Hartz IV. Wenn in den Kirchen kein Gott verkündigt wird, der den Kapitalismus gutheißt, ist der Atheismus auch nicht konstitutiv für die sozialistische Idee.
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