- Politik
- Prozess wegen Gezi-Protesten
»Die Anklage ist absurd«
Der Anwalt und Aktivist Can Atalay über die Gerichtsverfahren wegen der Gezi-Proteste in der Türkei
Herr Atalay, weswegen sind Sie angeklagt?
Uns wird vorgeworfen, während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 versucht zu haben, die türkische Regierung zu stürzen. Davon wurden wir eigentlich vor zwei Jahren freigesprochen. Anschließend wurde die Anklage gegen die Fangruppe Çarşı des Istanbuler Fußballvereins Beşiktaş, die auch freigesprochen wurde, neu aufgerollt und mit unserer Anklage verbunden. Hinzu kommen Anklagen gegen Osman Kavala wegen angeblicher Agententätigkeit und Verstrickung in den Putschversuch vom 15. Juli 2016. Mücella Yapıcı, Osman Kavala und ich werden zudem angeklagt, die Gezi-Proteste finanziert zu haben. Absurd - Mücella und ich wohnen zur Miete! Wir haben uns von Anfang an dagegen gewehrt, dass öffentliche Plätze und das Stadtzentrum Istanbuls bebaut werden. Daraus entstand eine Volksbewegung. Das einzige, was wir gemacht haben, war, diese Forderung wiederzugeben.
Wie verteidigt man sich gegen solch eine Anklage?
In der Anklage wurde nicht einmal die Notwendigkeit von Beweisen gesehen. Und das schafft die Unsicherheit in diesem Prozess. Ich bin Anwalt. Die älteren Generationen haben uns immer gesagt, wenn es nichts Konkretes in einer Anklageschrift gibt, ist die Situation umso ernster. Für mich kann ich sagen: Alles, was sie über Gezi sagen, akzeptiere ich. Ich lasse es nicht zu, dass ein gesellschaftlicher Widerstand, an dem Millionen teilgenommen haben, diffamiert wird. Gezi ist eine der wichtigen Quellen der Hoffnung dieses Landes, wenn nicht sogar die wichtigste.
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Die AKP und ihre damaligen Verbündeten, die Gülenisten, mussten sich überlegen, wie sie gegen den Gezi-Aufstand vorgehen. Ein Verfahren allein gegen die Sozialisten wäre nicht ausreichend gewesen, ebenso wenig gegen die Nationalisten, die Atatürk-Anhänger oder die Kurden. Die AKP ist darauf angewiesen, diese Auseinandersetzung für sich zu entscheiden, um ihre gesellschaftliche Hegemonie zu behalten. Denn Gezi war der Anfang des Prozesses, in dem die AKP Stück für Stück diese Hegemonie verlor. Sie will Gezi als Komplott des Westens und von ausländischen Mächten gegen die Türkei darstellen. Auch geht es der Regierung darum, den Widerstand der Zivilgesellschaft, die keine eigenen Publikationskanäle hat, zu kriminalisieren und zum Schweigen zu bringen. Gezi ist auch ein Beispiel für den gesamten Nahen Osten und hat gezeigt, dass es Alternativen außerhalb islamistischer Politik gibt.
Was erwarten Sie von der Gerichtsverhandlung an diesem Montag?
Wahrscheinlich wird der Prozess erneut vertagt. Dennoch ist es ein schlechtes Zeichen, dass die Verhandlungen in so kurzen Abständen, einmal pro Monat, stattfinden. Es könnte bedeuten, dass man schnell zu einem Ergebnis kommen möchte.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat entschieden, dass Osman Kavala umgehend aus der Haft entlassen werden muss. Die Türkei kommt dem nicht nach. Nun berät der Europarat über den Ausschluss der Türkei, es wäre der erste Rausschmiss eines Landes. Ist das realistisch?
Ich denke nicht, dass es soweit kommen wird. Es handelt sich eher um ein typisches Verhalten von Tayyip Erdogan: Er wird das Verfahren bis zum Äußersten treiben und im letzten Moment das Ruder herumreißen und verkünden, dass die unabhängige Justiz diese Entscheidung getroffen hat. Alles andere wäre ein Desaster für die Türkei, denn die meisten Verkäufe von hier gehen nach Europa.
Was erwarten Sie von Deutschland und der EU?
Es wurde bereits sehr deutlich, dass sie nichts unternehmen werden. Aber ich erhoffe mir mehr Solidarität von der Linken und den demokratischen Kräften. Das geschieht vor allem durch Kämpfe gegen die populistischen und faschistischen Bewegungen. Diese haben auch Einfluss auf die Situation hier.
In der Türkei gibt es derzeit Proteste gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Könnte sich so etwas wie Gezi wiederholen?
Eine Bewegung von dem Ausmaß wird sich als Modell nicht wiederholen, denke ich. Die aktuellen Proteste deuten nicht darauf hin.
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