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Verhöhnung statt Versöhnung
Das »Versöhnungsabkommen« mit Namibia zeigt, wie sich Deutschland aus der Verantwortung für die eigene Geschichte stehlen und Entschädigungen verhindern will - ein Vorabdruck aus dem Band »Koloniale Vergangenheit - Postkoloniale Zukunft?«
Ende Februar 1907 geißelte der Sozialist Karl Liebknecht die Verbrechen des deutschen Kaiserreichs im damaligen Deutsch-Südwestafrika und anderen Kolonien als eine Kolonialpolitik, »die unter der Vorspiegelung, Christentum und Zivilisation zu verbreiten oder die nationale Ehre zu wahren, zum Profit der kapitalistischen Kolonialinteressen mit frommem Augenaufschlag wuchert und betrügt, Wehrlose mordet und notzüchtigt, den Besitz Wehrloser sengt und brennt, Hab und Gut Wehrloser raubt und plündert, Christentum und Zivilisation höhnt und schändet.« Dem brutalen Vernichtungskrieg deutscher Kolonialtruppen, den Liebknecht in seiner Schrift »Militarismus und Antimilitarismus« treffend beschreibt, fielen bis zu 80 Prozent der Herero und mehr als die Hälfte der Nama zum Opfer. Ebenfalls betroffen waren Damara und San.
Bloß keine Entschädigung
Ungeachtet dieser frühen Kritik an den deutschen Kolonialverbrechen ist eine politische Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama über 100 Jahre lang ausgeblieben. Bis heute hält sich teilweise hartnäckig die Behauptung, Deutschland sei im Vergleich zu anderen Kolonialmächten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien oder Portugal eine unbedeutende und harmlose Kolonialmacht gewesen. Die im Rahmen der Kolonialkriege begangenen genozidalen Verbrechen wurden dabei bis vor kurzem noch als »unverhältnismäßige Härten und Grausamkeiten« verharmlost. Einige, wie der Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin Angela Merkel, Günther Nooke, sahen in Deutschland sogar eine eher positiv wirkende Kolonialmacht, die Afrika geholfen habe, sich »aus archaischen Strukturen zu lösen«. Sie suggerieren damit, dass die Kolonialherrschaft doch letztlich dazu beigetragen habe, die unterworfenen Gesellschaften angeblich zu »zivilisieren« und »entwickeln«.
CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl hatte 1995 beim ersten Staatsbesuch eines deutschen Kanzlers in Namibia die Debatte um die Anerkennung des Völkermords mit einem »formaljuristischen« Argument ausgebremst: Der Tatbestand des Genozids sei erst seit dem Jahr 1948 völkerrechtlich verbindlich geregelt. Deshalb könne dieser nicht rückwirkend auf frühere Verbrechen angewandt werden. Auch Grünen-Außenminister Joschka Fischer lehnte 2003 in diesem Sinne ein Schuldeingeständnis ab: »Wir sind uns unserer geschichtlichen Verantwortung in jeder Hinsicht bewusst, sind aber auch keine Geiseln der Geschichte. Deshalb wird es eine entschädigungsrelevante Entschuldigung nicht geben.« Bei einer Gedenkfeier in Namibia im Jahr 2004 zum 100. Jahrestag der Schlacht am Waterberg hatte sich SPD-Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul für die deutschen Kolonialverbrechen zwar erstmals öffentlich entschuldigt - aber ebenfalls nicht entschädigungsrelevant: »Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde.«
Diese Formulierung findet sich nun auch in der »Gemeinsamen Erklärung« der Bundesregierung und der Regierung der Republik Namibia »Vereint im Gedenken an unsere koloniale Vergangenheit, vereint im Willen zur Versöhnung, vereint in unserer Vision für die Zukunft« vom Mai 2021. Diese »Gemeinsame Erklärung« - euphemistisch auch als »Versöhnungsabkommen« bezeichnet - ist Ergebnis von Verhandlungen, die erst im Zuge des gestiegenen politischen Drucks durch die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den Deutschen Bundestag im Juni 2016 möglich wurden. Denn die Bundesregierung wollte sich nicht vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Doppelmoral vorwerfen lassen.
Teile und herrsche
Allein die Tatsache, dass die Bundesregierung die Anerkennung des Genozids zum Gegenstand politischer Verhandlungen gemacht und diesen nicht selbstverständlich als historische Tatsache anerkannt hat, ist entlarvend. Denn fast könnte man meinen, dass damit getreu dem alten Grundsatz des »teile und herrsche« die bewusste Fragmentierung der namibischen Gesellschaft provoziert wurde. Indem die Bundesregierung die Debatte über mögliche Reparationen von vornherein verweigert hat, entschied sie faktisch auch über die Zusammensetzung der Verhandlungsgruppe seitens Namibias. Klar war, dass die Nachfahren der Opfer der Massaker, Zwangsarbeit, Vergewaltigungen, medizinischen Experimente, von Verdursten, Verhungern, Deportationen, Vertreibungen, Enteignungen und unmenschlicher Behandlung in Konzentrationslagern in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika und die sie vertretenden Repräsentanten genau die Reparationen zum zentralen Gegenstand der Verhandlungen gemacht hätten.
Entsprechend waren bei den geheimen Regierungsverhandlungen, die dem »Versöhnungsabkommen« vorausgingen, keine repräsentativen Vertreter der betroffenen Gemeinschaften angemessen beteiligt. Denn sie hätten einem Abkommen im Wege gestanden, das keine Reparationen vorsieht. Von daher wundert es nicht, dass unter anderem seitens der Ovaherero Traditional Authority (OTA) und der Nama Traditional Leaders Association (NTLA) scharfe Kritik am Verhandlungsprozess und -ergebnis geäußert wurde. Auch im Parlament der Republik Namibia sorgte das »Versöhnungsabkommen« für heftigen Widerspruch. Der Bundesregierung dürfte dagegen auch klar gewesen sein, dass der Regierung der Republik Namibia in der Coronakrise fiskal- und wirtschaftspolitisch das Wasser bis zum Hals stand. 55 Prozent der namibischen Bevölkerung müssen mit einem Euro am Tag überleben. Fast der gesamte Reichtum des Landes liegt in den Händen einiger weniger. Durch die Einbrüche des Wirtschaftswachstums und die seit 2016 anhaltende Rezession hat sich die vom Kolonialismus geschaffene Lage wenig verändert. Laut Erhebungen der Namibia Statistics Agency befinden sich etwa 70 Prozent des kommerziellen Farmlands bis heute im Besitz von Nachfahren weißer Siedlerinnen und Siedler. Rund 53 Prozent der 1,3 Millionen Hektar Farmland, die ausländischer Besitz sind, gehören deutschen Staatsangehörigen.
Alles spricht dafür, dass die deutsche Regierung diese Notsituation Namibias bewusst ausnutzte, um ein genehmes Abkommen ohne Reparationen zu erreichen. Die Bundesregierung stellte das Machtverhältnis hinsichtlich der Verhandlungsparteien durch die Vorgabe klar, was alles nicht verhandelt wird. Dies wurde im Verhandlungsprozess deutlich und so ging sie auch mit dem entsprechenden Ergebnis um. Laut Ruprecht Polenz, dem deutschen Sonderbeauftragten für die bilateralen Verhandlungen, ist das »Versöhnungsabkommen« eine endgültige Vereinbarung. Auch der damalige SPD-Bundesaußenminister Heiko Maas bekräftigte, dass es Nachverhandlungen nicht geben werde.
Verweigerte Anerkennung
Noch zynischer als die Art der »Entschädigung« ist allerdings deren Umfang: So konnte sich die Bundesregierung nach zähen Verhandlungen dazu durchringen, als »Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde«, insgesamt gerade einmal 1,1 Milliarden Euro zu zahlen. Diese Summe soll »zum Wiederaufbau und zur Entwicklung« verwendet und über einen Zeitraum von 30 Jahren ausgezahlt werden. Ein schlechter Scherz, schließlich entspricht der Betrag ziemlich genau dem Umfang der »Entwicklungshilfezahlungen«, die seit 1989 ohnehin an Namibia geleistet wurden. Der Historiker Jürgen Zimmerer stellt in diesem Zusammenhang treffend fest, dass die Entschädigungszahlungen gerade einmal das 1,5-Fache der Kosten des Wiederaufbaus des Berliner Stadtschlosses der Hohenzollern betragen - also der Dynastie, die mit Wilhelm II. auch den letzten deutschen Kaiser stellte, in dessen Namen der Völkermord verübt wurde. Allein schon deshalb kann von einer »Geste der Anerkennung« nicht die Rede sein. Vielmehr handelt es sich um eine Geste des Hohns.
Dass sich die Bundesregierung so vehement gegen Reparationsleistungen wehrte und wehrt, liegt nicht zuletzt an der Angst, dies könnte einen Präzedenzfall schaffen, der zu analogen Forderungen von Nachfahren von Opfern in anderen ehemaligen deutschen Kolonien führen könnte. Angesichts der Begrenztheit des Völkerrechts zur Aufarbeitung kolonialen Unrechts braucht es einen politischen Willen, um der eigenen historischen Verantwortung gerecht zu werden und Wiedergutmachung zu leisten. Dieser politische Wille fehlte bei allen Bundesregierungen der vergangenen Jahre. Zu groß ist offenbar die Angst davor, die Büchse der Pandora zu öffnen und sich ernsthaft mit den vielen weiteren deutschen Kolonial- und Kriegsverbrechen zu beschäftigen, wie etwa der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands in der Kolonie Deutsch-Ostafrika, des Widerstands der Sokehs auf den Karolinen-Inseln, der Maka in Kamerun, den Massenvergewaltigungen in Togo, Zwangsarbeit und Prügelstrafen auf Samoa oder dem Kolonialkrieg gegen China - und die aus der historischen Verantwortung resultierenden Konsequenzen zu ziehen.
Dies würde nicht nur eine kritische Reflexion und konsequente Dekolonisierung der öffentlichen Erinnerungskultur in Deutschland erfordern. Notwendig wäre außerdem ein Umdenken in der nach wie vor von imperialen Motiven und kolonialen Denkmustern geprägten deutschen Außenpolitik. Denn diese steht angesichts der Verfolgung geostrategischer Vorherrschaft im Rahmen der Nato sowie kapitalistischer Profitinteressen mittels »humanitärer Interventionen«, gezielter Exporte von Kriegswaffen zur geopolitischen Einflussnahme und durch ausbeuterischen Freihandel in einer Linie mit der imperialistischen Kolonialpolitik, die Karl Liebknecht zum Anfang des 20. Jahrhunderts kritisierte. Die Entkolonisierung der deutschen Außenpolitik steht noch an.
Redaktionell gekürzter und leicht überarbeiteter Beitrag aus dem Band »Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken«, der am 3. März bei Brandes & Apsel erscheint.
Sevim Dağdelen ist Obfrau der Fraktion Die Linke im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages und Sprecherin für Internationale Politik und Abrüstung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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