Alle Dämme gebrochen

Bundestag fordert zwar auch humanitäre und zivile Hilfe für die Ukraine. Waffenlieferungen stellte nur noch die Linke in Frage

Historisch dürfte der 27. Februar 2022 für die deutsche Geschichte unzweifelhaft sein. Und das nicht, weil der Bundestag erstmals in seiner Geschichte an einem Sonntag zusammenkam. Sondern weil nach diesem Tag die Bundesrepublik endgültig Partei in einem neuen Krieg geworden ist.

Am 24. Februar hatte Russlands Präsident Wladimir Putin flächendeckende Angriffe auf die Ukraine mit Boden- und Luftstreitkräften angeordnet. Der Angriffskrieg bildete den Hintergrund für die Sitzung, tags zuvor hatte die Bundesregierung bereits eine Kehrtwende in Bezug auf ihre erst vor wenigen Wochen verkündete restriktive Rüstungsexportpolitik vollzogen. Laut Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP dürfen deutsche Waffen nicht in Gebiete mit laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen geliefert werden.

Doch seit dem Wochenende besteht zwischen Regierungsparteien, CDU und CSU Einigkeit darüber, dass dies für den Krieg in der Ukraine nicht mehr gelten darf, dass eine Verpflichtung besteht, dem »tapferen ukrainischen Volk« dabei zu helfen, »Demokratie und Freiheit« zu verteidigen. Dies sei ohne militärische Unterstützung nicht möglich, betonte unter anderem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).

Die von der Regierung am Samstag beschlossene Belieferung Kiews mit schwerem Kriegsgerät wurde vom Bundestag ebenso einhellig befürwortet wie die von Kanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung verkündete sofortige Aufstockung des Wehretats auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und die Schaffung eines einmaligen »Sondervermögens« für die Landesverteidigung in Höhe von gewaltigen 100 Milliarden Euro. Die von mehreren Regierungsmitgliedern bekanntgegebenen »finanziellen, wirtschaftlichen und individuellen Sanktionen« gegen Russland wurden lediglich von der rechten AfD abgelehnt, die Linke sprach sich gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung aus, jedoch ohne stringente Begründung.

Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) sagte dem Kanzler die Unterstützung der Union bei Rüstungsinvestitionen und Sanktionen zu, nicht ohne die bisherige Vernachlässigung der Verteidigungsfähigkeit durch die Ampelkoalition wie auch durch die vorige Bundesregierungen scharf zu kritisieren - die 16 Jahre lang von seiner Parteifreundin Angela Merkel geleitet worden waren.

Merz versicherte zugleich, die Union werde umfassende Maßnahmen unterstützen »und nicht im Kleinen herummäkeln«. Wenn Scholz eine umfassende Ertüchtigung der Bundeswehr wolle, werde die Union »auch gegen Widerstände den Weg mit dem Kanzler gehen«. Zugleich warnte er, das Rüstungs-Sondervermögen bedeute die Aufnahme neuer Schulden. Die Art der Finanzierung müsse sorgfältig diskutiert werden.

Zu Beginn der Sitzung hatte das gesamte Parlament dem auf der Gästetribüne sitzenden ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk minutenlang stehend Beifall gezollt, nachdem Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) ihn persönlich begrüßt und ihm Solidarität und Unterstützung Deutschlands und des Bundestages zugesichert hatte.

Olaf Scholz sagte, nach dem russischen Angriff sei die Welt »nicht mehr dieselbe wie die Welt davor«. Im Kern gehe es um die Frage, ob Macht das Recht brechen dürfe und ob es Putin gestattet werden könne, die Uhren »in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts zurückzudrehen oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen«. Diese Grenzen bestehen der Logik der deutschen Politik zufolge ausschließlich in allgemeiner Aufrüstung und Sanktionen. Letztere, darauf bereiteten mehrere Minister die Bevölkerung vor, würden auch hierzulande viele Probleme hervorrufen. Scholz betonte: »Präsident Putin sollte unsere Entschlossenheit nicht unterschätzen, gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen.«

Viele Rednerinnen und Redner betonten, es handle sich bei dem Waffengang in der Ukraine nicht um einen Krieg des russischen Volkes, sondern lediglich um einen, den eine Clique um Putin vom Zaun gebrochen habe. Sie lobten den Mut vieler Russen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, obwohl ihnen deswegen Repressalien und Verhaftungen drohten. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Nils Schmid, mahnte, die wenigen Gesprächskanäle in die russische Gesellschaft nicht abreißen zu lassen, denn: »Es wird auch ein Russland nach Putin geben.«

Außenministerin Annalena Baerbock verteidigte die Entscheidung der Regierung, nun doch Waffen an die Ukraine zu liefern. »Wir dürfen die Ukraine nicht wehrlos dem Aggressor überlassen, der Tod und Verwüstung über dieses Land bringt«, sagte die Grünen-Politikerin. Die Aggression müsse einen »für das System Putin« untragbaren Preis haben.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte mit Blick auf die beschlossenen Sanktionen gegen Russland, diese seien »auf Dauer angelegt«. Mit Blick auf Folgen der Sanktionen für die deutsche Wirtschaft sagte er: »Wir brauchen einen langen Atem, wir haben diesen langen Atem.« Deutschland sei bereit, negativen Auswirkungen der Sanktionen zu tragen, »denn sie sind der Preis der Freiheit«. Der Krieg in der Ukraine, meinte Lindner, wecke »uns alle aus einem selbstgerechten Traum«. Mit der Vernachlässigung der Bundeswehr müsse jetzt Schluss sein.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kündigte Hilfen für deutsche Firmen an: »Wir werden also für die Bereiche der Wirtschaft, die möglicherweise von Sanktionen betroffen sind, ähnliche Schutzmaßnahmen machen, wie wir es in der Corona-Pandemie getan haben.«

Linksfraktionschefin Amira Mohamed Ali war die einzige Politikerin, die sich gegen die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine wandte. »Dieses Hochrüsten, diese Militarisierung, die können und werden wir als Linke nicht mittragen«, sagte sie. »Die Geschichte lehrt uns, dass Wettrüsten keine Sicherheit schafft.« Zugleich räumte Mohamed Ali ein, ihre Partei habe die Lage lange falsch eingeschätzt. Die Linke teile die Ansicht, dass Russland allein für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verantwortlich sei.

Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel sprach dem Westen eine wesentliche Mitverantwortung für den Angriff Russlands auf die Ukraine zu. Die Hardliner hätten starr an der Nato-Beitrittsperspektive für das Land festgehalten und dabei »überheblich Russland den Großmachtstatus abgesprochen«. Dies ändere aber nichts an der »Verwerflichkeit des russischen Einmarsches«.

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