Wo liegt die Ukraine, Opa?

Den letzten Krieg auf ukrainischem Boden hat Deutschland geführt. Die Wehrmacht mit ihrer Rückzugspolitik der »Verbrannten Erde« verübte dort Gewaltverbrechen, deren Fortwirken im jetzigen Krieg stärker sichtbar wird

  • Johannes Spohr
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit vergangenem Donnerstag greift Russland die Ukraine an. Seitdem ist für mich als Historiker gerade nicht mehr daran zu denken, an Texten zu arbeiten, die sich mit der NS-Besatzung und dem Rückzug der deutschen Wehrmacht aus der Zentralukraine beschäftigen. Das waren die letzten Kriegshandlungen in diesem Gebiet zwischen Sommer 1943 und Frühjahr 1944 gewesen, bis am 24. Februar 2022 Bomben auch in der zentralukrainischen Region Winnyzja und Schytomyr niedergingen, abgeworfen von russischen Streitkräften. Seitdem richtet sich meine Aufmerksamkeit auf diese Gegenwart. Wie ergeht es den Freund*innen, Kolleg*innen, Interviewpartner*innen? Was kann man tun, um ihnen beizustehen und sie zu unterstützen?

Obwohl er nun völlig neue Dimensionen annimmt, begann der Krieg für die Menschen in der Ukraine nicht 2022, sondern 2014. Auch in den zentralukrainischen Regionen hatte man tote Soldat*innen zu beklagen und spürte die vielfältigen Auswirkungen des Krieges in der Ostukraine, dessen Unterstützung durch die russische Führung dort niemals bezweifelt wurde. Als eine Interviewpartnerin 2015 am Ende eines langen Gespräches über die deutsche Besatzung weinte, weil sie Angst vor einem Einmarsch Putins hatte, hielt ich eine solche Option nicht für realistisch, doch bekam ich einen Eindruck von der tief sitzenden Furcht, die die Kriegshandlungen im Osten des Landes auslösten. Gleichzeitig vermittelten mir viele Einwohner*innen den Trotz, den man für die militärisch überlegene Großmacht Russland übrig hatte.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Das Problem sei die russische Führung und nicht ihre Bevölkerung, daher gehe es auch nicht um die russische Sprache, gab man mir häufig zu verstehen. Man meint das in diesen Tagen in den vielen kommunikativen Szenen am Rande der Kämpfe ablesen zu können, in denen Einwohner*innen die Soldaten direkt ansprechen oder bewaffneten Einheiten und Panzern »Geht nach Hause« entgegenrufen. Solche Situationen der Nähe können jedoch das durch den massiven Beschuss der Großstädte ausgelöste Leid nicht überdecken, das die russischen Soldaten aus einer Distanz zu ihren Opfern verüben.

Transgenerationelle Traumata

Kollektive Erfahrungen mit Krieg und Terror haben bei vielen Einwohner*innen der Zentralukraine transgenerationale Spuren hinterlassen, die auch in der Gegenwart des russischen Angriffskrieges bedeutsam sind. Dazu gehören die stalinistischen Zwangskollektivierungen, die staatlich evozierte Hungersnot 1932/33 und der Große Terror 1936/37. Dazu gehören auch die Erfahrungen mit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges und die damit zusammenhängenden, schier unfassbaren Zerstörungen und Verluste. Auch viele Überlebende des deutschen Kalküls der »verbrannten Erde« und der über 600 zerstörten Ortschaften in der Ukraine sind nun mit einem neuen Krieg konfrontiert. Oftmals hat es sehr lange gedauert, bis die Ortschaften wieder vollständig hergestellt waren, in denen diese Menschen bis heute leben und um die sie nun fürchten.

Die Jewish Claims Conference fürchtet eine Re-Traumatisierung der 10 000 Holocaust-Überlebenden, von denen etwa die Hälfte zu Hause gepflegt wird. Dies gehört zu den Absurditäten einer Situation, in der Wladimir Putin behauptet, eine »militärische Spezialoperation« gegen einen angeblichen Genozid und für die »Denazifizierung« des Landes zu führen. Dabei greift er auch einen Präsidenten an, der drei Familienmitglieder im Holocaust verloren hat. Der Vorstand des Vereins Kontakte-Kontakty e.V., der sich der Aufklärung über den NS-Vernichtungskrieg im östlichen Europa verschrieben hat und unter anderem Zuwendungen für die dortigen Opfer der NS-Zeit organisiert, kommentierte den Krieg: »Diese Umdeutung von Geschichte zur Legitimation eines illegitimen Kriegs ist verwerflich und zutiefst beleidigend für das Gedenken an Millionen von Opfern des Nationalsozialismus und an diejenigen, die gegen ihn gekämpft haben, darunter russische und ukrainische Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee.«

Am 1. März schlugen Bomben in der Nähe von Babyn Jar ein, dem Ort, an dem das Sonderkommando 4a als Teil der deutschen Einsatzgruppe C mit der Unterstützung weiterer Einheiten im September 1941 mit über 33 000 Jüdinnen und Juden ermordeten. Zudem haben nicht wenige Männer, die heute um die 60 Jahre alt sind, im Afghanistankrieg (1979-1989) gekämpft und wurden durch diese gescheiterte imperialistisch-sowjetische Unternehmung schwer gezeichnet. Aus der gleichen Generation können viele noch von ihren militärischen Stationierungen in der DDR berichten. Die wenigsten allerdings hatten nach 1989 die Möglichkeit, erneut nach Deutschland zu reisen. »Mein Großvater brauchte kein Visum, um nach Deutschland zu reisen«, las ich in der Ukraine einmal auf einem T-Shirt. Das war noch vor 2017; seitdem können Ukrainer*innen für 90 Tage visumfrei nach Deutschland reisen - wenn sie es sich leisten können. Umgekehrt war die ukrainische Visumpflicht für EU-Bürger*innen bereits 2005 abgeschafft worden.

Deutsche Schuld(en)

Noch einen weiteren Bezug auf die Generation der Großeltern lese ich in diesen Tagen bei einer Demonstration gegen Putins Angriffskrieg in Berlin. Linke Diaspora-Ukrainer*innen, und auch »Russische Sozialisten gegen Russischen Imperialismus« forderten hier nicht nur den Schuldenerlass für die Ukraine, sondern verwiesen auch darauf, wie weit entfernt vielen hierzulande die Ukraine gerade noch erschien: »Hast du vergessen, wo die Ukraine liegt? Frag deinen Opa.« Diejenigen, die diese Transparente trugen, fürchten derzeit um ihre Angehörigen in Kyjiw, Charkiw und weiteren Städten, die unter heftigem Beschuss der russischen Armee stehen. Während einige, meist jüngere Menschen, nach Polen, Deutschland und in andere Länder fliehen konnten, harren andere in ihren Wohnungen oder Bunkern - häufig in Form der tiefen U-Bahn-Schächte - des Beschusses und eines drohenden Einmarschs der russischen Armee. Viele, auch ältere Zivilist*innen haben sich bewusst entschieden, zu bleiben und gegen eine drohende Besatzung Russlands zu kämpfen. Trockene Nüchternheit liegt in einigen Nachrichten aus Charkiv und anderen Orten, die in mir die Angst auslösen, es könnten die letzten gewesen sein, die ich von ihren Verfasser*innen erhalte.

Besonders unübersichtlich ist die Situation in Städten wie Cherson, die bereits mehrfach gemeldet wurde als von ukrainischen und russischen Einheiten eingenommen und in denen auch Wohnhäuser unter Beschuss stehen. Für Anna* und Maxim* ist es nun zu spät, um die Stadt zu verlassen. Diese Option war allerdings auch vorher nicht denkbar, da die Ausreise für Männer zwischen 18 und 60 Jahren derzeit untersagt ist. Die beiden sind Binnenflüchtlinge aus den von den Separatisten kontrollierten Teilen der Ostukraine und bereits müde, weil sie in den vergangenen acht Jahren viele Male ihren Wohnort wechseln mussten. »Aber es hat uns auch widerstandsfähiger gemacht«, sagen sie. Und Anna berichtet: »Erst gestern wachte ich um 4.30 Uhr auf und hörte Drohnen, Kampfflugzeuge, Artillerie und explodierende Granaten.« Als russische Einheiten die Stadt Anfang März offenbar wirklich nach und nach einnehmen, versiegen die Nachrichten aus Cherson.

Olha Martynyuk, Historikerin am Kyjiwer Polytechnischen Institut, war schon am 24. Februar von Detonationen geweckt worden: »Irgendwie dachte ich, die Explosionen würden in den großen Städten der Zentral- und Ostukraine auftreten. Jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt, aber zu diesem Zeitpunkt war es meine direkte Entscheidung, aus der Großstadt zu verschwinden.« Sie schaffte es, auszureisen und sich nach Basel durchzuschlagen. Martynyuk hinterließ viele Verwandte in der Ukraine, und wie viele Geflüchtete spricht sie davon, sich dafür schuldig zu fühlen. Sie leistet nun von Basel aus Unterstützung, auch durch Öffentlichkeitsarbeit.

Hilfsbereitschaft und Rassismus

Die seit einer Woche herrschenden Realitäten haben viele Menschen weltweit überrascht und schockiert. Hierzulande bleibt abzuwarten, wie lange die akute Aufmerksamkeit für den Krieg und den seit Jahren andauernden Konflikt in der Ukraine andauern wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden. Bereits jetzt ist zu beobachten, wie sich parallel zur Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtenden auch in Deutschland antislawischer Rassismus auf verschiedene Weisen Ausdruck verschafft - sei es in Form von Hetze gegen Ukrainer*innen oder Angriffen auf russische Restaurants. Diverse Menschen berichteten zudem, aufgrund ihrer Hautfarbe am Übertritt der ukrainisch-polnischen Grenze gehindert worden zu sein. Politiker*innen mehrerer afrikanischer Staaten schalteten sich ein.

Als ich höre, dass es immerhin den Einwohner*innen eines zentralukrainischen Dorfes gut geht, das die Wehrmacht auf ihrem Rückzug 1944 niederbrannte und dabei Dutzende Menschen ermordete, bin ich erleichtert. Eine der Nachfahr*innen derjenigen, die diese »Sühnemaßnahme« überlebt haben, konnte sich im letzten Moment vor dem Beschuss der Stadt aus Charkiv nach Polen retten. Ihre Hoffnung ist jedoch, bald nach Hause zurückkehren zu können.

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