Freiberger Gegengewicht

In der sächsischen Kleinstadt versucht eine Gruppe junger Menschen, linke Strukturen zu schaffen

  • Hannah Jagemast, Freiberg
  • Lesedauer: 9 Min.
Demonstration gegen Neofaschisten im sächsischen Freiberg
Demonstration gegen Neofaschisten im sächsischen Freiberg

Sonntagnachmittag, kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine. Draußen ist es grau, und drinnen stapeln sich leere Gläser und Flaschen. Zoe sitzt an ihrem Schreibtisch und heftet Zettel ab. Erst gestern wurde sie zur Vorsitzenden eines neu gegründeten Kulturvereins gewählt. »Wir brauchen einen unverfänglichen und seriösen Namen«, hat Zoe bei dem Treffen in Erinnerung gerufen, denn mit dem Verein sollen Förderanträge gestellt werden. Seit Langem träumen sie und ihre Freund*innen von einer Räumlichkeit, in der sie sich kreativ und politisch betätigen können. Sie wollen Vorträge, Lesungen, Konzerte organisieren und ihn für alle Menschen offen gestalten, denen ein solcher Ort ein Stück Freiheit ermöglichen kann. Es ist aber nicht einfach für sie, einen passenden Raum zu finden und das nötige Geld dafür aufzutreiben.

Dabei bereitet den jungen Menschen vor allem die Stimmung in der Stadt Sorgen. »Freiberg hat eine reaktionäre Stadtgesellschaft« – diesen Satz kann Tim nicht oft genug wiederholen, passt er doch als Antwort auf die Schikanen und Konflikte, denen er und seine Freund*innen regelmäßig ausgesetzt sind. Sie wollen in der Kleinstadt, in der 40 000 Menschen leben, etwas verändern. Tim ist im Jungen Netzwerk Freiberg aktiv – einer Gruppe junger politischer Menschen, die im vergangenen Jahr ihre gemeinsamen Grundwerte in einem Selbstverständnis niedergeschrieben haben. Das Netzwerk strebt eine basisdemokratische und selbstverwaltete Gesellschaft an, heißt es in dem über Facebook veröffentlichten Text, ohne menschenverachtende Ideologien und Diskriminierung.

Für Tim ist das ein »Herzensprojekt«. Er ist in Freiberg geboren und aufgewachsen, zog aber vor einigen Jahren zum Studieren nach Leipzig. Er hatte das Kleinstadtleben satt und wollte »mal raus aus der Scheiße«. Dennoch ist er immer wieder zurück nach Freiberg gefahren, um politische Arbeit zu machen. »Mir ist es wichtig, den Ort und die Menschen nicht aufzugeben und weiterhin dafür zu kämpfen, dass hier etwas entsteht, das ich während meiner Jugend vermisst habe.« So geht es auch Zoe. Eigentlich wollte sie direkt nach dem Abitur im vergangenen Jahr die Stadt verlassen, entschied dann aber, noch zwei weitere Jahre zu bleiben. Dennoch ist das Weggehen stets ein Thema, denn regelmäßig ziehen Menschen um. Erst gestern erreichte Zoe die Nachricht, dass ein weiterer Freund die Stadt verlassen wird. Wieder einer weniger. Das hinterlässt nicht nur bei ihrer politischen Arbeit eine Lücke, sondern ist auch ein persönlicher Verlust für sie.

Für Zoe wie für Tim ist das politische Engagement nicht nur so etwas wie ein Ehrenamt, das einem Bedürfnis entspringt. Auch Freundschaften und der persönliche Austausch spielen dabei eine wichtige Rolle. Manchmal sind es die Ideen bei einem Bier, die sie dazu motivieren weiterzumachen. Auch der Austausch mit Gruppen der Region ist für sie wichtig, da die Aktivist*innen in den umliegenden Orten ähnliche Probleme haben.
»Wir haben einen Platz an der Sonne«, beteuert Tim. Vor rechter Straßengewalt muss sich die Gruppe nur selten in Schutz nehmen. Ganz anders als beispielsweise in Zwickau, wo gerade kürzlich wieder Räumlichkeiten und Autos von Antifaschist*innen attackiert wurden. »Wir haben hier kaum organisierte Nazis, die meisten sind Suffnazis mit rassistischer, sexistischer, faschistischer Ideologie, die aber kaum organisiert sind.«

Für andere Menschen in Freiberg sieht die Realität anders aus. Sie können ihre Merkmale nicht so einfach ablegen wie Tim und seine Freunde, die sich selten als Linke zu erkennen geben. In der Stadt kommt es häufiger zu rassistischen Übergriffen – und oft gibt es nur wenige in Freiberg, die sich davon öffentlich distanzieren.

Obwohl die viereinhalb Stunden Plenum ermüdend waren, ist die Vereinsgründung gut verlaufen. Zoe moderierte die Sitzung und verwies mehrmals darauf, dass sich alle melden und nicht dazwischenreden sollen – damit die Atmosphäre respektvoll bleibt und sie zügig vorankommen. Schließlich ist Samstagabend, und alle wollen nach Hause. Aber die Debatte um den Namen zog sich in die Länge. »Er darf nicht zu spießig und bürgerlich sein, er soll ja unsere Zielgruppe ansprechen«, ergänzte Zoe. Es wird noch einige Zeit dauern, bis der Verein offiziell eingetragen ist, solange soll der endgültige Name noch nicht veröffentlicht werden. »Für alle« sei aber nicht ihr Motto; schließlich haben sie zu dem mittlerweile überregional bekannten Bündnis »Freiberg für alle« ein eher ambivalentes Verhältnis. Der Zusammenschluss ist breit aufgestellt. Ein Pfarrer macht dort mit, Professor*innen und auch Akteure der Lokalpolitik. Sie wollen ein Zeichen für Toleranz und Demokratie setzen und sind für ihre Aktion »#gesichtzeigen« bekannt.

Das Junge Netzwerk ist dagegen von dem großen öffentlichen Interesse an diesem Bündnis zunehmend enttäuscht. »Seit Beginn der Montagsspaziergänge machen wir darauf aufmerksam, recherchieren zu Verbindungen in das rechte Milieu und kritisieren das gefährliche Gedankengut«, sagt Tim. »Da fühlt es sich doof an, wenn ›Freiberg für alle‹ auf einmal bundesweit, ja sogar europaweit Aufmerksamkeit erhält – unsere Existenz aber verschwiegen wird.« Natürlich freuen sie sich über solche Initiativen, auch wenn die gegenseitige Unterstützung bisher noch nicht so gut funktioniert habe, meint Tim. Trotzdem bemühen sie sich weiterhin um einen Dialog mit dem Bündnis.

Gewalt bei rechten Aufmärschen

Am Sonntag ist Zoe stolz darauf, sofort alle wichtigen Dokumente geordnet zu haben. Während sie einige erstaunte Blicke auf sich zieht – schließlich ist sie ansonsten eher chaotisch, wie ihre Freunde anmerken – macht Tim ein Mittagsschläfchen auf der Couch. Als er erwacht, leuchten mehrere Nachrichten auf seinem Handy. Das für den Abend geplante Plenum wird ausfallen, da es ein paar Leute nicht rechtzeitig schaffen. Die Entscheidung tut gut, schließlich sind alle erschöpft von dem Gruppenprozess, und auch morgen steht wieder Politik auf der Agenda: Montag in Freiberg bedeutet nämlich seit mehr als anderthalb Jahren Demonstrationen von Corona-Leugner*innen, die oft als Spaziergänge verharmlost werden.

Immer wieder kommt es bei den Aufmärschen zu Anfeindungen und gewalttätigen Übergriffen gegen all jene, die andere Meinungen vertreten. Auch Journalist*innen und Polizist*innen werden zur Zielscheibe. Letztere hingegen stehen häufig selbst in der Kritik. Denn oft verhinderten sie weder die Menschenaufmärsche, die wegen der Infektionsschutzregeln oft gar nicht hätten stattfinden dürfen, noch gewährleisteten sie die Sicherheit aller Anwesenden. Auch heute ist die Polizeipräsenz wieder dürftig. »Hätten wir als Linke eine Demo veranstaltet, wären viel mehr Bullen anwesend, und uns hätten sie niemals so laufen lassen«, kommentiert Tim das Geschehen.

Die 33-jährige Amelie sitzt in ihrem Büro. Sie arbeitet im sozialen Bereich und kennt das Junge Netzwerk, engagiert sich politisch allerdings bei den Grünen und bei »Freiberg für alle«. Vor einigen Jahren hat sie Demonstrationen gegen die NPD angemeldet und kritisierte in öffentlichen Diskussionen aktiv AfD-Politiker. Seit einiger Zeit hat sie sich aber aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. »Ich bin ganz schnell ins Visier der AfD-Stadträte geraten«, seufzt sie. »Für die bin ich ein Feindbild.« Der Konflikt beruht inzwischen nicht mehr nur auf Meinungsunterschieden, sondern greift tief in Amelies Privatsphäre ein. Sowohl im Internet als auch in ihrem privaten Briefkasten häufen sich bedrohliche Nachrichten, eine davon lautete: »Wir wissen, welchen Weg du gehst, wenn du deine Kinder zum Kindergarten bringst.«

Vor einigen Wochen erhielt sie eine Morddrohung. Es gab einen Nachruf auf sie, der auf Facebook schnell viral ging und viel Aufmerksamkeit erregte. »Du merkst, da ist eine Bedrohung, kannst sie aber nicht sehen und hast gleichzeitig ein fünf- und ein dreijähriges Kind zu Hause, denen du vermitteln möchtest, dass sie beschützt groß werden.« Von dem Besuch zweier Polizisten war Amelie enttäuscht. Sie vermittelten ihr das Gefühl, die Anfeindungen lägen in ihrem eigenen Verschulden. »Ich fragte mich in dem Moment, ob ich mir gerade überhaupt Hilfe nach Hause geholt habe«, erzählt Amelie. Sie habe Polizei eigentlich mit Sicherheit und Gerechtigkeit in Verbindung gebracht. Dieses Gefühl ist für sie nun aber beschädigt worden. Während Montage für Amelie Tage sind, an denen sie ihre Kinder früher vom Kindergarten abholt und das Haus nicht mehr verlässt, sehen diese Tage für Tim anders aus. »Der Montag in Freiberg beginnt. Ein Auto mit Musik von Landser fährt ins Parkhaus am Kaufland«, twittert Tim über den Kanal des Jungen Netzwerks. Er ist mit einer kleinen Gruppe unterwegs, um den Protest zu beobachten. Nachdem sie sich von einem höher gelegenen Ort einen kurzen Überblick verschafft haben, nähern sich Tim und ein paar Freunde den rund tausend Demonstrierenden. Ganz dicht möchte niemand an die Menge ran gehen. Erstens sind ihnen die Menschen wenig sympathisch, zweitens möchte niemand sich mit dem Coronavirus anstecken. »Masken kannst du nicht tragen, damit würdest du sofort als Feind auffallen«, bemerkt Tim, während er versucht, die Gesichter der Menschen zu erkennen, was bei Dunkelheit und Schneeregen aber nicht leicht ist.

Vor einigen Monaten kamen Größen der sächsischen Neonaziszene montags nach Freiberg, darunter Mitglieder der NPD und der Partei Dritter Weg. Die sind inzwischen aber schon länger nicht gesichtet worden. Tim ordnet viele der Anwesenden den Reichbürger*innen zu. Angemeldet hat die Kundgebung diesmal wieder die AfD, während die Kleinstpartei Die Basis an einem Stand Info-Materialien verteilt. Das sei vor einigen Wochen noch nicht der Fall gewesen, beteuert Tim.

Was ihm und den anderen zudem Sorgen bereitet, sind die Jugendlichen. Weil es für sie in der Stadt kaum Angebote gibt, laufen immer mehr montags mit. »Es ist halt mal was los in der Stadt«, erklärt Tim. Erst bei der Vereinsgründung erzählte eine Person von der Schließung des »Abseits«, des Vereinsheims des BSC Freiberg mit Tischkickerclub.

Es verwundert sie denn auch nicht, als Zoe erzählt, dass sie gestern erst zwei Kinder beobachtet hat, wie sie antifaschistische Sticker mit Schriftzügen wie »Gegen Nazis« abkratzten. Das eine war fünf, das andere zwölf. »Ich hätte die voll angemault«, sagt Tim trocken. Für die Gruppe ist eine solche Provokation nichts Neues. Genau deshalb wollen sie Veränderung in Form eines Ortes schaffen, an dem sich nicht nur sie wohlfühlen, sondern der jungen Menschen eine Anlaufstelle und einen geselligen Raum zum Ausprobieren bietet. So lange wird auch Zoe der Stadt nicht den Rücken kehren und höchstens in eine der umliegenden Städte ziehen, wie es Tim getan hat.

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