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Europäisches Schleudertrauma
Szczepan Twardoch zeigt die Menschen in seinem neuen Roman »Demut« als Getriebene zwischen Gut und Böse
Gleich mit dem ersten Kapitel wirft der polnische Schriftteller Szczepan Twardoch den Leser in dieses Schleudertrauma europäischer Geschichte, das er mit seinem neuen Roman »Demut« (Rowohlt) entfacht und durchexerziert, als gäbe es kein Morgen mehr. Man wird durchgeschüttelt, es reißt an einem, zuweilen verliert man die Orientierung, den Halt sowieso, Schwindel und Angst steigen auf.
Twardoch schickt uns hinein in den Ersten Weltkrieg, zusammen mit seinem Protagonisten Alois Pokora, der als Offizier auf der Seite Preußens kämpfen muss, mitten hinein in die Schlacht. Granaten und Kugeln fliegen, Menschen werden zerfetzt. In dieser existenziellen Situation erinnert sich der Sohn eines schlesischen Bergmanns an Freunde, Studienkollegen und vor allem an seine große Liebe Agnes. »An deine Hände, Agnes, denke ich, wenn ich auf die phosphoreszierenden Zeiger der Uhr im Lederetui schaue, die nach militärischer Mode an den Ärmel der Uniformbluse geschnallt ist, es ist drei Uhr siebenundzwanzig. Drei Uhr siebenundzwanzig, dreiundzwanzigster Oktober, Agnes.« Diese Liebe ist allerdings unerwidert, sie ist ein Sehnsuchtsort nach Zuneigung und Halt - eine Heimat, die es in der Welt von Alois nicht gibt.
Alois ist ein Aufsteiger. Weil er den nötigen Grips zeigt, schickt ihn sein Vater, wenn auch widerwillig, zu einem Dorfpfarrer, einem harten und autoritären Mann, der den Bergmannssohn aber fördert, weswegen er schließlich auf dem Königlich katholischen Gymnasium in Gleiwitz landet. So entgeht er dem Schicksal seiner Familie: Arbeit in den Stollen, Staublunge, ein hoffnungslos verarmtes Leben.
Alois spricht Polnisch beziehungsweise als Schlesier Schlonsakisch oder Wasserpolnisch, wie die Polen diesen aus schlesischen, deutschen und polnischen Wörtern angefütterten Dialekt verächtlich nennen. Die Bildungs- und Kulturelite Schlesiens ist deutschsprachig. Deswegen muss Alois Deutsch lernen; sein Dialekt, seine Herkunft allerdings machen ihn zum ewigen Außenseiter und zu einem Fremden, der ständig mit sich und seiner Identität hadert. Von seinen Mitschülern wird er mit verbaler und körperlicher Gewalt malträtiert und misshandelt, was ihn noch stärker zum Zurückgewiesenen werden lässt.
Allerdings findet er in einem Mitschüler auch einen echten Freund. Diese Geschichte des Aufstiegs und der Zerrissenheit wird anfangs erzählt, mit einer Wucht und Kraft und Einfühlsamkeit, mit einem Gefühl für atmosphärische und historische Details, die die Lebenswege und Charaktere plastisch werden lassen; alles wird in diesem Urmeer der Geschichten und der Geschichte mitgerissen. Der Sog, den dieses Meer entfacht, erinnert an einen epischen Pageturner, allerdings an einen außerordentlich guten von literarischer Klasse, die Olaf Kühl - auch das muss erwähnt werden - ganz hervorragend ins Deutsche übertragen hat. Dass Twardoch sich zuweilen vom eigenen Sprachsog mitreißen lässt und im Kitsch landet, kann man ihm getrost nachsehen.
Twardoch, der selbst aus Schlesien stammt, zeigt seine Protagonisten als Spielbälle von dramatischen Verwerfungen und Umbrüchen, die die europäische Geschichte geprägt haben. Hin- und hergerissen zwischen Kulturen, Ereignissen, zwischen Gut und Böse. Sie sind Getriebene, mal Täter, mal Opfer oder beides zusammen, denen es lediglich obliegt, sich in bestimmten, aber raren Momenten für die eine oder andere Seite oder für die eine oder andere Richtung nicht entscheiden, sondern sich dieser ergeben zu können.
Ansonsten werden sie mitgespült, durchgeschleudert. So heißt es an einer Stelle, als Twardoch erzählt, wie Alois’ Vater die ständigen Schwangerschaften seiner Frau begreift: »Ihm tat es leid wegen der Hölle der Schwangerschaften, doch betrachtete er das Schicksal der Mamulka als naturgegeben, so wie die Jahreszeiten, wie Dürre und Gewitter, Winterstürme und Herbstschlamm. Ich glaube, Mamulka teilte diesen Fatalismus.« Diese ungeheure Schicksalsergebenheit reicht also tief, tief in den Ursprung, in den Schoß des Menschseins sozusagen.
In der Schlacht wird Alois verwundet, und er wacht schließlich in einem Krankenbett auf. Es ist 1918 und das Kaiserreich, für das er eben noch kämpfte, wird bald fallen. Er irrt durch die Wirrungen dieser Zeit, die plötzlich auch undenkbare Freiheiten ermöglichen. An einer Stelle heißt es, Shakespeare paraphrasierend: »›Ich glaube an gar nichts‹, erwiderte ich. ›Ich glaube einzig, dass die Welt Chaos ist, ein Märchen, erzählt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet.‹«
Dann muss Alois nach Schlesien zurück, um sich seinem Schicksal und sich selbst zu stellen - und seiner Illusion, die er in seinem Herzen trägt: Agnes.
Der Titel »Demut« weist auf eine Haltung hin, die schicksalshafte Lebenswegprägungen entstehen lassen kann, aber - wie wir wissen - nicht unweigerlich muss. In diesem Sinne könnte Twardochs Roman nicht aktueller, nicht dramatisch treffender in diese neuerliche »Zeitenwende« passen, die Europa aktuell erschüttert: seit dem 24. Februar 2022.
Szczepan Twardoch: Demut. A. d. Poln. v. Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 464 S., geb., 25 €.
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