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Von Herzenslust und Gewissensbissen
Vor 500 Jahren übersetzte Martin Luther auf der Wartburg bei Eisenach das Neue Testament. Unsere Sprache prägt das bis heute
Und wenn die Welt voll Teufel wär’ … Um es gleich vorwegzunehmen: Dass Martin Luther auf der Wartburg nach dem Leibhaftigen ein Tintenfass geworfen hat, ist, wie der Bibelprofessor selbst sagen würde, eine »Lügende«. Ein Tintenfleck in Luthers damaliger Stube, links neben dem Ofen, ist erst ab dem 17. Jahrhundert belegt. Bis heute aber wird Luther mit dem Teufel in Verbindung gebracht. In weiten Teilen der Linken gilt er als Antisemit, Frauenfeind und Bauernhasser - ausgerechnet der Mann, der sich einmal wünschte, so laut beten zu können wie die Juden, und nicht verstehen wollte, warum Gott sie nicht erhört; der seine Ehefrau respektvoll »Herr Käthe« nannte und dessen Lied »Ein fester Burg ist unser Gott!« die »Marseillaise der Bauernkriege« war, wie es Friedrich Engels schrieb. Ebendieser Martin Luther hat unsere Sprache beeinflusst wie kein anderer und damit auch unser Denken.
Luther als ambivalente Figur
Ein kleiner Exkurs vorab: Der historische Luther steckt voller Widersprüche und ist begraben unter Dutzenden Schichten voller Zuschreibungen. Aus dem Propheten, der das Christentum vor dem Papst retten wollte, wurde eines Tages der Überwinder des Mittelalters, der dann zum Vater der Nation erklärt wurde und bald schon zum Vorkämpfer gegen das Weltjudentum. Über sechs Millionen ermordete Juden und eine Weltkriegsniederlage später war er für die Deutschen auf einmal der große Trostspender, der gesagt haben soll: »Und ginge morgen die Welt unter, ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.«
Schließlich nahm sogar die SED Luther in Anspruch, als Teil des »progressiven Erbes«. Der Reformator aus Wittenberg galt nun als »Wegbereiter der großen geistigen und politischen Auseinandersetzungen«, mit denen Deutschland und Europa in die Epoche der ersten bürgerlichen Revolutionen eintraten. Und dennoch sollte es in der DDR zu keinem ernst gemeinten Dialog zwischen Marxisten und Protestanten kommen. Dabei hätte schon ein bestimmter Satz von Marx den Streit gelohnt: »Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt« - etliche Theologen hätten dem sicher ohne Zögern zugestimmt, ohne bei »Er« allerdings (wie Marx) an Luther zu denken.
In dessen Übersetzung des Neuen Testaments taucht das Wort Glück kein einziges Mal auf. Als Luther vor nunmehr 500 Jahren auf der Wartburg die Bergpredigt in die Alltagssprache übertrug, übersetzte er das griechische Makarios nicht mit »glücklich«. Im Matthäus-Evangelium lesen wir: »Selig sind die Sanftmütigen ...« und: »Selig sind die Barmherzigen …«, aber nicht glücklich. Ähnliches taten später auch die beiden Autoren des »Manifests der Kommunistischen Partei«. Auch in diesem Text ist von Glück keine Rede. Kirche und Kommunisten vertrösten in ihren heiligen Schriften die Menschen auf eine selige Zukunft. Aber sie trösten, immerhin.
Und womöglich haben schon zu Luthers Lebzeiten die Menschen in ihm etwas gesehen, das er nicht war, nicht sein wollte. Etwa die Bauern, die sich bald schon in ihrem Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung auf Luther beriefen, auf sein Postulat »Von der Freiheit des Christenmenschen«. Die dunklen Seiten seiner Persönlichkeit sollen hier nicht verschleiert werden. Über Luthers Judenhass hat der Autor in dieser Zeitung schon zu Genüge geschrieben. Und von der Feindschaft zu Thomas Müntzer zu berichten, dem »Theologen der Revolution« (Ernst Bloch), der schon Jahre vor Luther den Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten hat, wird an anderer Stelle noch Gelegenheit genug sein. Ein Gedanke aber sei nochmals hervorgehoben: Egal wie wir heute zu Martin Luther stehen (oder etwa in Berlin zur Martin-Luther-Straße, die ein Gutachter umbenennen will), bleibt es ein historisches Faktum, dass dieser Mensch wie kein anderer vor und nach ihm unsere Sprache geprägt hat.
Dem Volk aufs Maul geschaut
Dem Reformator aus Wittenberg verdanken wir solch wunderbare Redewendungen wie »wes das Herz voll ist, des geht der Mund über«, »ein Herz und eine Seele«; »wie die Jungfrau zum Kind« und »wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.« Nicht zu vergessen das Luther-Aperçu »Perlen für die Säue«. Ohne seine Wortschöpfungen - denken wir nur an Herzenslust, Ebenbild, Bluthund, Machtwort, Schandfleck, Lückenbüßer, Lockvogel, Lästermaul und natürlich die Gewissensbisse - wären Literatur und Journalismus heute arm dran. Und was immer der bisweilen sehr zornige Augustinermönch in seinem Leben erreicht hat - er hat es erreicht, weil er in seinen Schriften von der akademischen Sprache zur volkstümlichen Sprache übergegangen war. Die berühmten 95 Thesen anno 1517 zu Wittenberg waren noch in Latein verfasst. Erst als Junker Jörg, der nach dem Reichstag von Worms im April 1521 auf der Wartburg Zuflucht gefunden hatte vor der Reichsacht des Kaisers, vollzog Martin Luther den linguistischen Wechsel. »Dem Volke aufs Maul schauen« war sein Programm.
Wer Luthers Wirken in seiner Zeit verstehen will, muss wissen, dass die Menschen des Mittelalters und der Renaissance viele Jahre früher starben als die Menschen heute. Ihre Lebenserwartung aber war eine höhere: Die Leute glaubten, dass ihr oft von Krankheit und Armut gequältes Dasein nur eine Prüfung wäre für das eigentliche, das ewige Leben. So war denn auch die Angst vor der Verdammnis ein ständiger Begleiter. Und Menschen, die in Angst leben, lassen sich leichter regieren. Doch dann kam Luther und verkündete: »Sola fide!« Nur durch den Glauben werdet ihr zu Gott finden, nicht durch Werke, nicht durch Taten. Und schon gar nicht durch den Ablasshandel eines Johann Tetzel, der da im Auftrag Roms vorgibt, Gottes Gnade zu verkaufen.
Martin Luther berief sich auf den Apostel Paulus, der in einem Brief an die römische Gemeinde von der Gerechtigkeit vor Gott geschrieben hatte, »die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben« (Römer 3,22). Damit war Luther nicht der Erste, vor ihm hatten das auch schon Thomas von Aquin und Jan Hus gepredigt; der Wittenberger aber rief lauter, auch dank der Erfindung des Buchdrucks.
Eine Bibelübersetzung unter vielen
Dass Martin Luther sich irgendwann noch tiefgründiger mit der Heiligen Schrift beschäftigen würde, war nur eine Frage der Zeit, wovon er auf der Wartburg wahrlich genug hatte. Dabei herrschte an Bibelübersetzungen seinerzeit kein Mangel; 14 oberdeutsche und vier niederdeutsche gedruckte Vollbibeln gab es bereits, was Luther offenbar als Gräuel empfand. Jahre später erinnerte er sich: »Einer hätte den Evangelisten Matthäum, der andere den Lucam verdolmetscht.« Luther wollte eine Bibel mit protestantischem Profil. Und weil für ihn der Karfreitag das zentrale Ereignis christlicher Heilsgeschichte war, war es nur logisch, dass er mit dem zweiten Teil, dem in altgriechischer Sprache verfassten Neuen Testament begann, das er ab Mitte Dezember 1521 in einem Arbeitsschub innerhalb weniger Wochen übersetzte.
Luthers historische Leistung besteht weniger darin, den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Paulus-Briefen eine protestantische Prägung gegeben, sondern, wie es sein Biograf Heinz Schilling konstatiert, zugleich »ein großes Sprachkunstwerk« geschaffen zu haben. Klugerweise bediente er sich dabei der sächsischen Kanzleisprache, eines Dialektes, der in allen deutschen Regionen verständlich war, weshalb sich das Werk rasch verbreiten konnte.
Als Luther dann Anfang März 1522 die Wartburg in Richtung Wittenberg verließ, trug er das Manuskript im Gepäck bei sich. Allerdings sollte seine Arbeit erst nach dem Sommer gedruckt werden, weshalb sie als »Septembertestament« in die Kirchengeschichte eingegangen ist. Innerhalb eines Jahres erlebte Luthers Übersetzung des Neuen Testaments im deutschen Sprachraum gut ein Dutzend Nachdrucke. Insgesamt soll es zu seinen Lebzeiten nicht weniger als 20 Neuauflagen gegeben haben, ab 1530 in einer von Luther und seinem treuesten Berater Philipp Melanchthon revidierten Fassung.
Protestantische Bildungsrevolution
Die Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen war dann schon eine Kollektivarbeit. Der Wittenberger Bibelkommission gehörten die Reformatoren Justus Jonas, Caspar Cruciger und andere an. Und so müsste die Lutherbibel, wie Heinz Schilling meint, eigentlich »Reformatorenbibel« heißen.
Die Arbeit daran war erst 1534 vollendet und sollte die deutsche Sprache und Kultur in vieler Hinsicht prägen. Nach protestantischem Verständnis ist die Bibel die direkte Verbindung Gottes zu den Menschen. Folglich muss jeder Christenmensch in der Lage sein, sich selbst mit der Heiligen Schrift auseinanderzusetzen, will heißen: Frauen und Männer müssen lesen können, wozu vor 500 Jahren nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung in der Lage war. Die Reformation löste in ihrem Einflussgebiet einen bis dahin nicht gekannten Bildungsschub aus, ihr Einfluss auf die Volksbildung ist kaum zu unterschätzen.
Schon 1524 verfasste Luther die Schrift »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«. Auch die Fürsten, die Luther als Notbischöfe einsetzte, waren angehalten, Schulen zu bauen, im Übrigen auch für Mädchen. Bereits 1520 hatte der Reformator an den Adel geschrieben: »Und wollte Gott, eine jegliche Stadt hätte auch eine Mädchenschule …« Auch hieran lohnt es sich beim Namen Luther zu erinnern.
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