Nicht Hegemonie, sondern Harmonie

Uwe Behrens ist überzeugt, die Neue Seidenstraße ermöglicht eine Neuordnung der Welt zum Wohle aller

Das ist doch mal erfrischend, wie selbstbewusst, ohne falsche Scham dieser Autor ostdeutscher Provenienz sich als kompetent erklärt: »Ich reklamiere für mich, erstens frei im Denken und im Urteil zu sein, weil ich weder dem Mainstream noch irgendwelchen Vorgaben folgen muss. Und zweitens kann ich auf Kenntnisse und Erfahrungen zurückgreifen, die ich in einem halben Jahrhundert beruflicher Tätigkeit auf dem Gebiet internationaler Transportökonomie gesammelt habe.« Der studierte und promovierte Logistiker Uwe Behrens hat fast 30 Jahre in der Volksrepublik China und in Indien gearbeitet, den beiden bevölkerungsreichsten Staaten mit jahrtausendalter Geschichte, Kultur und Traditionen, auf die man dort zu Recht stolz ist.

Die chinesische Regierung adaptiere, so Behrens, »Überlegungen ihrer eigenen Denker wie die der ganzen Welt«, nehme auch Anleihen bei bewährten ökonomischen Systemen in der Vergangenheit. Beispielsweise mit der Wiederbelebung der Idee der »Seidenstraße«. 2013 hat Partei- und Staatschef Xi Jinping einer staunenden internationalen Öffentlichkeit den Auf- und Ausbau einer internationalen Handels- und Infrastruktur vorgestellt. Über 140 Staaten Asiens, Afrikas und Europas sind dem ambitionierten Vorhaben inzwischen beigetreten - im Chinesischen »Pinyin Yīdài Yīlù« genannt, was so viel wie Gürtel oder Straße bedeutet, ins Englische übersetzt als »One Belt, One Road«.

Die als »Belt and Road«-Initiative, kurz BRI, in den globalen Wirtschafts- und Finanzjargon eingegangene gigantische Unternehmung fordert in der Tat Respekt ab. Der Ökonom Behrens verwendet in seinem Buch überwiegend den sperrigen technokratischen Begriff, der jedoch gewiss - oder hoffentlich - die wesentlich sympathischere Bezeichnung »Neue Seidenstraße« nicht aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verdrängen wird.

Das Wort Seidenstraße prägte der deutsche Geograf und Forschungsreisende Freiherr Ferdinand von Richthofen. In dessen 1877 erschienenen fünfbändigen Reisebericht wurde derart die Karawanenroute benannt, auf der chinesische Seide aus dem Han-Reich (206 v. u. Z. bis 220 u. Z.) über Zentralasien ins Römische Reich gelangte. Erste historische Belege für den chinesischen Fernhandel reichen jedoch zurück bis 1200 v. u. Z., in die Zeit der Shang-Dynastie. So fand man in Ägypten eine in chinesische Seide gehüllte 3000 Jahre alte Mumie, weiß Behrens.

Der Begriff Seidenstraße wurde schließlich zeitlich wie räumlich ausgeweitet, avancierte zu einer Klammer für ein ganzes Geflecht von Handelsrouten, auf denen nicht nur Seide, sondern auch Gewürze, Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Luxusartikel zu Käufern und Kunden gelangten. Unter diesem Oberbegriff subsumierte man zudem die in Sibirien beginnende Pelzstraße, die Weihrauchstraße aus Südarabien und die Bernsteinstraße von der Ostsee. »Mehr als anderthalbtausend Jahre lang zogen Kaufleute, Gelehrte und Handwerker von Ost nach West und von West nach Ost, um miteinander zu handeln und voneinander zu lernen. Sie überwanden über sechstausend Kilometer unter oft widrigen Bedingungen, aber zum gegenseitigem Vorteil«, schreibt Behrens. Warum sollte dies nicht auch in der Jetztzeit mit der Neuen Seidenstraße gelingen?

Natürlich erlebten die antiken wie auch frühneuzeitlichen »Seidenstraßen« ein Auf und Ab. Geostrategische Interessen förderten, durchkreuzten aber auch den Austausch der Völker, der sich nicht nur auf den Handel mit Waren reduzierte, sondern gegenseitige kulturelle Beeinflussung einschloss. Religiöse Missionierung und Infiltration sei eher nicht intendiert gewesen, gelang weniger über die alten Seidenstraßen. »Von den Religionen, die über die ›Seidenstraße‹ gekommen waren, hatte lediglich der Buddhismus als eine nicht monotheistische Religion in China nachhaltigen Einfluss, da sie sich mit den Lehren des Konfuzianismus, mit dem Daoismus und asiatischen Lebensformen vereinbaren ließ«, unterrichtet Behrens.

Kriege unterbrachen stets gedeihliches Miteinander. Der Handel versiegte, als die mongolischen Eroberer sich des chinesischen Reiches bemächtigten und bis nach Europa vordrangen. Erst mit Dschingis Khan wurden die Handelsrouten wieder sicherer, konnten sich Kaufleute erneut und relativ unbehelligt auf große Tour begeben. »In jener Zeit bereisten Händler wie Marco Polo und Francesco Pegolotti, Missionare wie Johannes de Plano Carpini oder Wilhelm von Rubruk diese Route und brachten wundervolle Berichte nach Europa. Ihre Schilderungen begründeten den Mythos der sagenhaften ›Straße in den Orient‹, von mit Palmen gesäumten Oasen, goldenen Tempeln, von schönen Haremsdamen und Moscheen mit leuchtenden Kuppeln.«

Die der Mongolenherrschaft folgende Ming-Dynastie wandte sich dann dem seeseitigen Handel zu, berichtet Behrens. Legendär sind die auf Order von Kaiser Zhu Di über die Weltmeere bis nach Afrika (manche meinen gar bis nach Amerika) segelnden Flotten überdimensionierter Dschunken. Ziel der insgesamt sieben Expeditionen unter dem Kommando von Admiral He zwischen 1405 und 1433 war neben dem Handel die Erkundung, aber auch Unterwerfung fremder Territorien. Da diese kostspieligen überseeischen Vorstöße zunächst (bevor Tribute von den Unterworfenen eingefordert werden konnten) eine erhebliche Steuerbelastung für die einfachen Untertanen im »Reich der Mitte« bedeuteten, kam es zu Unruhen und Aufständen. Weshalb die Ming-Kaiser letzten Endes das einmalige maritime Kapitel in der chinesischen Geschichte beendeten.

»Es begann eine Politik der Abschottung gegenüber dem Rest der Welt.« Symptomatisch für deren geistigen Hintergrund ist ein Schreiben von Kaiser Qian Long an den englischen König Georg III. 1793: »Wie Euer Botschafter selbst sehen kann, besitzen wir bereits alles. Ich messe fremden oder ausgefallenen Dingen keinerlei Wert bei und habe keinen Bedarf an den Erzeugnissen Eures Landes.« Die aufstrebenden neuen, Portugiesen und Niederländer ablösenden Kolonialmächte ließen sich davon nicht abhalten, erzwangen mit Gewalt, List und Tücke die Öffnung des Landes. Bekannt ist die blutige Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes durch ein vereinigtes Expeditionsheer des europäischen, US-amerikanischen und japanischen Imperialismus an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Die spannende Historie wird in Behrens’ Buch auf knapp 30 Seiten abgehandelt. Dem Autor geht es vielmehr um die sogenannte Neue Seidenstraße. China knüpfe hierbei nicht nur an die eigene Geschichte wie auch an europäische Mythen an, um die Vergangenheit für eine wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit in der Gegenwart nutzbar zu machen. Es gehe Peking nicht nur um rationale ökonomische Überlegungen und Entscheidungen, betont der Autor, sondern auch um einen Paradigmenwechsel in der internationalen Kooperation: »Jahrhundertelang segelte und handelte Europa in Richtung Osten, es gründete Häfen und Städte, besetzte Territorien und ließ für sich arbeiten. Inzwischen geht der Zug von Ost nach West, von Asien nach Europa.«

Der chinesischen Regierung konzediert Behrens, »im weitesten Sinne« die Hebung des Lebensniveaus aller an der Neuen Seidenstraße beteiligten Völker anzustreben. In einzelnen Länderkapiteln, von Russland und den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken über Vietnam, Myanmar, Kambodscha, Philippinen und Indonesien sowie Indien, Pakistan, Afghanistan und Iran bis nach Afrika und Lateinamerika, sogar bis in den hohen Norden, die Arktis, werden Chancen wie Herausforderungen dargelegt und diskutiert - akribisch, kenntnis- und faktenreich sowie quellengesättigt. Des Autors Vorliebe für Zahlen, logistische Operationen und Statistiken ist deutlich erkennbar. Sein Buch wird gewiss bei Ökonomen und investitionsfreudigen Unternehmen reißenden Absatz finden, bietet aber ebenso für den zeithistorisch und an aktuellen Geschehnissen interessierten Leser reichlich Erkenntnisgewinn.

In den letzten Jahren ist es zwar stiller geworden um die Neue Seidenstraße, für die Xi in einem fast einstündigen Vortrag nochmals in Davos 2017 die Werbetrommel gerührt hatte. Kein Wunder, die Pandemie rückte alsbald in den Mittelpunkt globaler Debatten und strategischer Überlegungen. Zudem begann man im Westen angesichts gewachsener chinesischer Wirtschaftsmacht alte antikommunistische Klischees wiederzubeleben. Behrens wehrt westliche Vorbehalte und Vorwürfe ab, die Neue Seidenstraße sei ein Versuch der chinesischen Kommunisten, sich die Welt und speziell den christlich-abendländischen Kulturkreis zu unterwerfen. Er beendet sein Buch mit der Mahnung: »Man muss in Harmonie miteinander leben und nicht versuchen, über andere zu herrschen. Nur wenn die gesamte Menschheit am Aufschwung partizipiert, kann sie sich auch gleichmäßig und in allen Teilen der Welt entwickeln.« Uwe Behrens versichert, Peking strebe nicht nach Hegemonie, sondern Harmonie - mit allen Menschen und der Umwelt. Deshalb sei denn auch das Projekt »Neue Seidenstraße« in der Verfassung der Volksrepublik kodifiziert worden.

Uwe Behrens: Der Umbau der Welt. Wohin führt die Neue Seidenstraße? Edition Ost,
256 S., br., 18 €. Am Mittwoch, 13. April, 18 Uhr stellt der Autor sein Buch vor: Münzenbergsaal, Bürogebäude am Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin (Moderation: Karlen Vesper).

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