Was im Gehirn passiert, wenn wir sterben

Durch Zufall aufgezeichnete Hirnwellen eines Sterbenden lassen vermuten, dass in dieser Situation Bilder erzeugt werden

  • Alice Lanzke
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist eine Frage, die viele Menschen beschäftigt: Wie fühlt sich der Tod an? Sehen wir ein Licht am Ende eines Tunnels, den eigenen sterbenden Körper, oder zieht das Leben noch einmal vor dem inneren Auge vorbei? Eine US-Studie deutet nun darauf hin, dass unser Gehirn im Augenblick des Todes wirklich Erinnerungen aufflackern lässt. Zumindest wurden in einem Krankenhaus bei einem sterbenden Patienten Hirnströme aufgezeichnet.

Dass diese Hirnaktivität überhaupt festgehalten wurde, ist einem Zufall geschuldet: Die behandelnden Ärzte führten bei dem 87-Jährigen, der nach einem Sturz am Kopf operiert worden war und epileptische Anfälle hatte, mehrere Elektroenzephalographien (EEG) durch. Ein EEG zeichnet die elektrische Aktivität des Gehirns auf. Während einer solchen Aufzeichnung erlitt der Patient einen Herzinfarkt und starb.

Insgesamt, so berichten die Wissenschaftler im Fachblatt »Frontiers in Aging Neuroscience«, wurden 15 Minuten der Hirnaktivität beim Sterben des Mannes aufgezeichnet. »Wir haben uns darauf konzentriert, was in den 30 Sekunden vor und nach dem Herzstillstand geschah«, erläutert Studienleiter Ajmal Zemmar, Neurochirurg an der Universität Louisville. »Kurz bevor und nachdem das Herz aufhörte zu schlagen, sahen wir Veränderungen in einem bestimmten Frequenzbereich der neuronalen Schwingungen, den sogenannten Gamma-Oszillationen, aber auch in anderen wie Delta-, Theta-, Alpha- und Beta-Oszillationen.«

Diese Hirnwellen bilden Muster rhythmischer neuronaler Aktivität ab. Verschiedene Wellen werden mit diversen Funktionen verbunden, wobei die in der Studie beschriebenen Frequenzmuster jenen ähneln, die beim Meditieren oder beim Abruf von Erinnerungen auftreten. Das lege nahe, spekuliert Zemmar, dass das Gehirn kurz vor dem Tod durch Erzeugung solcher Oszillationen möglicherweise letzte Erinnerungen an wichtige Lebensereignisse abspiele, »ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen«.

Frank Erbguth, ärztlicher Leiter der Nürnberger Universitätsklinik für Neurologie, zeigt sich von den Beobachtungen nicht überrascht: »Es ist nichts Neues, dass sich das menschliche Gehirn in bestimmten Situationen seine eigenen Bilderwelten schafft.« Das sei etwa von Migränepatienten bekannt, aber auch von Drogenkonsumenten. »Entsprechend reihen sich Nahtoderlebnisse in eine Reihe unterschiedlichster Phänomene ein, bei denen das Gehirn Bilder produziert«, sagt der Präsident der Deutschen Hirnstiftung.

Was dabei im Hirn passiere, sei gut erklärbar. Mit dem Sterben steige der Kohlendioxid-Gehalt in den Zellen an: »Das führt zu einer Veränderung der Hirnelektrik und des Hirnstoffwechsels - auf diesen beiden Klaviaturen werden Nahtoderlebnisse verortet.« Solche könnten auch Menschen erfahren, die besonders gut im Meditieren sind. Bei diesen zeigten EEGs vermehrte Gamma-Spektren - ähnlich jenen, von denen die Studie berichte, sagt Erbguth. »Und von diesen Gamma-Aktivitäten wissen wir, dass sie einen Abruf von Erinnerungen anzeigen.«

Gleichzeitig sind Gamma-Wellen sehr schnell, sie oszillieren mit einer Geschwindigkeit von 30 Hertz pro Minute. »In einem konventionellen EEG ist das Gamma-Band nicht zu sehen«, so der Neurologe. Daher sei die in der Studie unternommene differenzierte Auswertung der Wellenbereiche ein neuer Aspekt.

Eine andere Studie zeigte bereits 2013 ähnliche Ergebnisse, nur dass diese Veränderungen der Gamma-Wellen bei Ratten auftraten. Die Autoren der aktuellen Studie deuten dies als Möglichkeit, dass das Gehirn beim Sterben eine biologische Reaktion ausführe, die bei allen Arten gleich sein könnte. Allerdings beruhe ihre Studie auf einem einzigen Patienten, dessen Gehirn verletzt war und der zudem epileptische Anfälle erlitten hatte: »Solche epileptischen Aktivitäten bedeuten, dass die Hirnelektrik richtig durchgeschüttelt wird«, merkt Erbguth an. Hieraus Folgerungen für das normale sterbende Hirn zu ziehen, sei schwierig.

Insgesamt liefere die Studie eine weitere Facette für das Wissen zum sterbenden Gehirn, das allerdings schon jetzt umfassend sei: Steht der Blutkreislauf still, stellt das Gehirn die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ein, bestimmte Rhythmen der Hirnelektrik verschieben sich, die Zellen haben noch einmal einen elektrischen Output.

Allerdings ergaben Studien aus der Reanimationsmedizin, dass zwar zwei Drittel der Menschen mit einer Nahtoderfahrung angenehme Bilder sahen, aber ein Drittel berichtete von schlimmen Szenen. Vermutlich ist das nicht steuerbar. dpa/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.