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Wenn Folter normal ist
Kennen Sie den »Nuevo gótico latinoamericano«? Mariana Enríquez erzählt in »Unser Teil der Nacht« vom Horror der Gewalt in Argentinien
Bisher war die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez hierzulande für ihre Kurzprosa bekannt. Nun erscheint mit »Unser Teil der Nacht« ein über 800-seitiger fantastischer Roman der 1973 geborenen und in Buenos Aires lebenden Autorin. In der spanischsprachigen Literaturwelt wird er als ganz großer Wurf gehandelt. Der mexikanische Schriftsteller Juan Pablo Villalobos sieht ihn in einer Tradition mit Büchern wie Gabriel García Márquez’ »100 Jahre Einsamkeit«, Julio Cortázars »Rayuela« und Roberto Bolaños »2666«.
»Unser Teil der Nacht« spielt vor allem in den 70er und 80er Jahren während der argentinischen Militärdiktatur. Es geht um einen geheimnisvollen okkultistischen Orden, der mit Hilfe eines Mediums ein Portal in eine mystische Dunkelheit öffnet, die Macht verleiht, aber auch Opfer fordert und Menschen brutal tötet. Erzählt wird die Geschichte dieses Mediums, eines Jungen namens Juan aus armen Verhältnissen, der von dem Orden rekrutiert wird und schließlich Jahrzehnte später darum kämpft, sein eigenes Kind aus diesem mörderischen Wahnsinn herauszuhalten. Dabei schlägt Mariana Enríquez einen weiten erzählerischen Bogen von den 1950ern bis in die 1990er Jahre und liefert ein beeindruckendes gesellschaftspolitisches Panorama Argentiniens.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
»Unser Teil der Nacht« ist ein finsteres, verstörendes Buch, dessen Gewaltdarstellungen an einigen Stellen schlicht unerträglich sind. Wobei die Autorin damit durchaus im Trend liegt. Seit einigen Jahren gibt es eine ganze Reihe junger lateinamerikanischer Autorinnen, die der mitunter sehr drastischen sozialpolitischen Realität ihrer Heimatländer mit dem Genre der Fantastik- und Horrorromane zu Leibe rücken. Neben Rita Indiana, Samanta Schweblin und Fernanda Melchor sind das noch eine ganze Reihe, zum Teil noch nicht ins Deutsche übersetzte Schriftstellerinnen, unter denen Mariana Enríquez mit »Unser Teil der Nacht« aber derzeit für den Literaturbetrieb zur wohl bedeutendsten Stimme dieser Strömung des sogenannten »Nuevo gótico latinoamericano« (Neuer lateinamerikanischer Schauerroman) geworden ist.
In »Unser Teil der Nacht« fächert sie ein enormes Romangeschehen mit unzähligen Figuren und kunstvoll ineinander verwobenen Erzählsträngen auf, das die Entstehung des ganzen Ordens bis ins 18. Jahrhundert in Europa zurückverfolgt, aber auch mehrere miteinander verknüpfte Familiengeschichten und viel spannend inszenierte Zeitgeschichte bietet. Es geht unter anderem um Okkultismus, politischen Machterhalt der Eliten, Migration, gewerkschaftliche Kämpfe gegen die Militärdiktatur, um Massaker an linken Aktivisten, die 60er-Jahre-Subkultur in London, Sexualität und Liebe, Teenager-Rebellion, 90er-Jahre Post-Punk in Argentinien, Studentenproteste und entgrenzte Polizeigewalt.
Inmitten dieses ausufernden und detailliert erzählten historischen Rahmens stehen Juan und sein Sohn Gaspar, die versuchen, dem Orden und seinen sadistischen Methoden zu entkommen, aber durch familiäre Bande an ihn gebunden sind. Sie werden zu Werkzeugen reduziert, ihr Leben ist nur noch den Zielen des Ordens untergeordnet, für den Folter eine gängige Praxis ist.
Die Führung des Ordens kommt aus dem Großbürgertum und versteht sich glänzend mit den Machthabern der Militärdiktatur. Neben nächtlichen okkultistischen Zeremonien, bei denen Menschen verstümmelt und grausam ermordet werden, gibt es eine ganze Reihe magischer Praktiken, die sich Juan schließlich auch aneignet und einsetzt, um sich gegen den Orden zu wehren. Ein Spukhaus in einem Vorort von Buenos Aires, das in eine Welt voller Knochenberge und an Bäumen hängender Leichen führt, gehört genauso dazu wie eine indigene Heiligenverehrung aus dem Norden Argentiniens, wo ein Großteil der Handlung angesiedelt ist.
Doch bei Mariana Enríquez hat der Horror stets eine gesellschaftspolitische Dimension. »Ich habe über militärische Folter gelesen und gleichzeitig Edgar Allan Poe. Sie graben immer noch Leichen unter der Autobahn aus, wo zwei Minuten von meinem Haus entfernt ein ehemaliges Konzentrationslager war. Es gab Leute, die ihre Augen geschlossen haben, aber ich kann das nicht«, sagte sie gegenüber der spanischen Tageszeitung »El Periódico«.
Der Titel »Unser Teil der Nacht« entstammt einem Gedicht von Emily Dickinson. Es ist kein Genreroman im engeren Sinn. Dieses ziegelsteingroße Buch entzieht sich allzu einfachen Kategorisierungen, macht Anleihen bei Fantasy und Horror, hat aber auch Elemente des politischen Realismus und erinnert immer wieder an die Prosa von Jorge Luis Borges. Aber mit der Tradition des magischen Realismus haben Mariana Enríquez und andere Vertreterinnen des »Nuevo gótico latinoamericano« nichts zu tun. Ihre Literatur ist weitaus düsterer, heftiger und definitiv auch zeitgemäßer.
»Unser Teil der Nacht« fängt den ganzen Schrecken von Gewalt, Traumatisierung und mörderischen gesellschaftlichen Hierarchien unmittelbar ein. Isabel Allendes »Das Geisterhaus« (1982), ebenfalls eine mehrere Dekaden umfassende Familiengeschichte aus Lateinamerika und Aushängeschild des magischen Realismus, das auch die Zeit der Militärdiktatur thematisiert, verhält sich zu Mariana Enríquez’ Roman wie nette Popmusik zu dissonantem Hardcore-Punk. Zartbesaiteten Leser*innen sei dieses Buch nicht empfohlen, doch es gehört zum Besten, was die reichhaltige argentinische Literatur derzeit zu bieten hat.
Mariana Enríquez: Unser Teil der Nacht. A.d. argent. Span. v. Inka Marter und Silke Kleemann, Klett Cotta, 832 S., geb., 28 €.
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