Eine rassistische Volksdiktatur?

»Zerborstene Zeit« - Michael Wildt beleuchtet deutsche Geschichte

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

Von den »Kommandohöhen der Politik« betrachtet, ist die deutsche Zeitgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allen Interessierten geläufig. Es handelt sich wohl um die am gründlichsten erforschte Epoche der Geschichtsschreibung über Deutschland. Michael Wildt, Professor für Zeitgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität, zieht in seine in zwölf Kapitel unterteilte Darstellung der dramatischen deutschen Jahre von 1918 bis 1945 unter diesen »Kommandohöhen« einen zweiten Strang. Seine Protagonisten heißen Luise Solmitz, Joseph Matthias Mehs, Hersch Lauterpacht, oder Raphael Lemkin, ein polnisch-jüdischer Jurist und Friedensforscher, der in seinem Buch »The Axis Rule in Occupied Europe« für Völkermord das Wort »Genozid« prägte.

Neben diesen weniger geläufigen Namen stützt sich Wildt auch auf bekannte Zeugen und Quellen wie die Aufzeichnungen von Victor Klemperer oder Samuel Beckett, um den Leser hautnah Zeitgeschichte und Zeitgenossen erleben zu lassen. Neben den »klassischen« historiografischen Passagen in seiner Darstellung rücken derart persönliche Wahrnehmungen, Irrtümer, Erlebnisse gleichberechtigt ein, die das »Große Ganze« tiefer ausloten und zahlreiche unverhoffte Erkenntnisse befördern.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Doch welche Urteile trifft der Historiker über die von ihm untersuchten Jahre und Systeme? »Vielleicht ließe sich die soziale und politische Ordnung, die 1933 geschaffen wurde, am treffendsten als rassistische Volksdiktatur bezeichnen«, urteilt er über das NS-Regime. Er gelangt zu dieser Charakterisierung der Hitlerzeit nicht nur wegen der Maßnahmen der NS-Regierung, der Verwaltung, des Gewaltapparats und der NSDAP, sondern auch und vor allem durch die von ihm gesammelten und zitierten O-Töne. Von Menschen, die keine Entscheidungsträger waren und doch entscheidend für die Ausprägung der Nazidiktatur als eine durch und durch rassistische.

Wildt widmet sich zuvor der Gründung der Weimarer Republik, beschreibt die Konkurrenz der Parteien auf der linken und rechten Seite - und wie ein aus dem Kaiserreich geerbter Rassismus und Antisemitismus neue unheilvolle Blüten trieb. Ein ganzes Kapitel widmet der Geschichtsprofessor der afroamerikanischen Tänzerin Josephine Baker, die damals Gastspiele in Berlin gab und alle Welt bezauberte. Auch Charlie Chaplin ist ihm ein eigenes Kapitel würdig.

Ein Glanzstück in Wildts Buch ist die Beschreibung der Konferenz von Locarno im Oktober 1925. Er widmet seine Aufmerksamkeit nicht nur den »großen« Ergebnissen wie der Vereinbarung, dass Deutschland dem Völkerbund beitreten werde, sondern auch den verhandelnden Personen. Da erörtert er unter anderem die zweitrangig erscheinende Frage, wer die Zeche in dem Café bezahlte, in dem sich der französische und der deutsche Außenminister, Briand und Stresemann, für eine Stunde zu einem Gespräch unter vier Augen getroffen hatten. Für Wildt zeigt sich hier eine neue Vertrautheit zwischen ehemaligen Kriegsgegnern. Die beiden Kaffeehaus-Besucher erhielten im darauffolgenden Jahr den Friedensnobelpreis. Keine zehn Jahre später wird Hitler Deutschland wieder aus dem Völkerbund führen. Das Tempo dieser Entwicklung rechtfertigt den Titel des beeindruckenden Buches »Zerborstene Zeit«.

Nicht weit von Locarno, am französischen Ufer des Genfersees, in Évian-les-Bains, fand im Juli 1938 eine von US-Präsident Roosevelt initiierte Konferenz mit dem Ziel statt, ein verbindliches Abkommen über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus dem inzwischen durch den »Anschluss« Österreichs erweiterten Deutschen Reich zu treffen. Wir wissen, dass die Konferenz scheiterte. Wildt zitiert aus den Protokollen die einwanderungsfeindlichen, zum Teil sogar antisemitischen Begründungen der Delegierten. Der australische Minister T. W. White sagte zum Beispiel: »Da wir in Australien kein Rassenproblem haben, wird jedermann Verständnis dafür aufbringen, dass wir uns nicht danach drängen, eins zu importieren, indem wir irgendeinen Plan für eine fremde Einwanderung unterstützen.« Für hämischen Beifall aus Berlin war gesorgt.

Ein besonderes Kapitel widmet Wildt der Geschichte einer Stadt in Osteuropa, die zunächst zu Österreich, dann zu Polen, später zur Sowjetunion gehörte und jetzt zur Ukraine: Lemberg beziehungsweise Lwow oder Lwiw. Ein furchtbares deutsches Erbe: Im Zweiten Weltkrieg betrieben hier die Hitlertruppen ihren Vernichtungskrieg vor allem gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Heute ist die Stadt im Westen der Ukraine Ausweichquartier von Botschaften der USA oder Frankreichs, die vorübergehend aus Kiew evakuiert wurden. Das ganze Kapitel ist ein Beleg für die umstrittene Territorialgeschichte dieser Region und hochaktuell.

Michel Wildts »Zerborstene Zeit« reflektiert politische Geschichte in einer Zeit, in der Weichen gestellt worden sind, die in eine Sackgasse, in eine Katastrophe, in einen Abgrund führten. Verdienstvoll, dass dies anhand von Lebensläufen dargestellt wird, darunter auch der einer begeisterten Nationalsozialistin aus Hamburg, Luise Solmitz, Hitler-Fan und zugleich Ehefrau eines nach den Nürnberger Rassegesetzen als Jude geltenden Deutschnationalen. Wildt zitiert aus über Jahrzehnte laufenden Tagebucheintragungen des Katholiken und lokalen Zentrumspolitikers Joseph Matthias Mehs aus Wittlich - ein unbeirrter Hitler-Gegner, aber auch er sah eine »bolschewistische Gefahr«. Die von den Nazis beschworene »Volksgemeinschaft« war sich einig in Antikommunismus und Antisemitismus, Nationalismus. Sie kann insofern als eine »rassistische Volksdiktatur« definiert werden.

Michael Wildt: Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918-1945. C. H.Beck, 638 S., geb., 32 €.

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