- Berlin
- Tag des Sieges
Kampf um die Deutungshoheit
Auch am 9. Mai gedenken Hunderte Menschen in Berlin des Sieges der sowjetischen Armee
Rote Nelken, Schwarz-Weiß-Fotografien von sowjetischen Soldaten und ein paar verlorene Stimmen, die russische Walzer mitsingen – der »Rotarmisten-Gedächtnis-Aufzug« zelebriert am Montag das jährliche Gedenken an die sowjetische Armee und ihren Sieg über Nazi-Deutschland. Dieses Jahr begleiten zahlreiche Journalist*innen und ein Polizei-Großaufgebot den Marsch vom Brandenburger Tor bis zum sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten. Denn im Kontext des Ukraine-Krieges wird mit Konflikten gerechnet.
Es sind vor allem russischsprachige Menschen unter den etwa 500 Teilnehmenden, die Fotos und Blumen zum Mahnmal tragen. Und einige sind von weither angereist, um am Gedenken in Berlin teilzunehmen. Wie Anna Sosin und ihr Mann Jurij, die aus Krefeld in Nordrhein-Westfalen in die Hauptstadt gekommen sind. Er trägt ein Bild seines Vaters in der Hand, »Gekämpft, aber nicht gefallen«, sie Blumen. »Wir sind zum ersten Mal hier«, sagt sie zu »nd«, »denn uns allen tut die Seele weh. Seit acht Jahren weine ich schon.«
Seit 2014 also, als Russland die Krim annektierte und der nun eskalierte Expansions-Krieg begann. Dieses Jahr sei der 9. Mai ihr besonders wichtig, um sich klar gegen Krieg und Faschismus zu stellen, so die Deutsch-Kasachin. Sie verurteilt also Putins Angriffskrieg? Sosin rudert zurück, »persönlich stehe ich hinter Putin«, die Ukrainer*innen würden sich ja leider gegenseitig umbringen. »Wir sind gegen Krieg!«, schiebt sie noch einmal hinterher.
Dieses fragwürdige Narrativ taucht im Gespräch mit den Teilnehmer*innen wieder und wieder auf. Wenn sich Anwesende überhaupt dazu bereit erklären, mit der Presse zu reden. »Zeitungen vertrauen wir nicht«, geben zwei von ihnen zu verstehen – dann stellen sie Putins Angriffskrieg und seine Kriegsverbrechen in der Ukraine als Kampf gegen den Faschismus dar.
Nach einem gemächlichen Spaziergang zum Denkmal werden die Anwesenden schubweise durch die Gitterabsperrung und zur Blumenablage geschleust. Zwischen den blumenbedeckten Stelen kommt es zu einem Handgemenge, als der Kameramann eines ukrainischen Mediums mit einem russischsprachigen Teilnehmer aneinandergerät. Etwa fünf Menschen werden nach Angaben der Polizei daraufhin polizeilich festgehalten.
Ansonsten blieb es unerwartet friedlich, was vermutlich an der Abwesenheit der »Nachtwölfe« lag. Die rechtsextreme und Putin-nahe Rockergruppe hatte sich mit 150 Mann aus Frankfurt am Main angekündigt und die Berliner Polizei in Alarmbereitschaft versetzt. Aber noch am späten Nachmittag ließ die Biker-Gang auf sich warten. Nur vereinzelt tauchten Männer in Motorrad-Montur auf und legten Kränze nieder.
Am Eingang zum Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park hingegen sollen einzelne Mitglieder der »Nachtwölfe« von der Polizei abgewiesen worden sein. An der offiziellen Gedenkveranstaltung nahmen laut Behördenangaben rund 200 Menschen teil. Bei gutem Wetter schlendern Besucher*innen anschließend über das Gelände des Sowjetischen Ehrenmals, das die Berliner Beamten mit großem Aufgebot sichern. »Ich wohne in der Nähe und bin vorbeigekommen, um mir das Ganze mal anzusehen«, sagt Ali Khettal. Der Algerier steht vor einem Stand der Reichsbürger-Gruppierung »Staatenlos.Info«.
»Mit diesem Revisionismus kann ich nichts anfangen«, sagt Khettal. »Aber dass hier alle friedlich miteinander reden und jeder seine Meinung sagt, ist eine Errungenschaft. In Moskau könnte so etwas heute nicht stattfinden.« Über den Krieg in der Ukraine sei er entsetzt: »Was Putin da macht, markiert einen Bruch in der Geschichte der Vereinten Nationen.«
Weiter vorne, neben einer der stilisierten Sowjetfahnen aus rotem Granit, die den Blick auf die große Statue des Befreiers einrahmen, liegen junge Frauen und Männer reglos auf dem Boden. Ihre weißen Hemden sind mit roter Farbe beschmiert, manche von ihnen haben die Hände auf den Rücken gebunden. Der Anblick soll an die Bilder von Kriegsverbrechen in der Ukraine erinnern.
»Es ist lächerlich, wie Putin heute Blumen für Odessa und Kiew niederlegt, während er genau diese Städte weiter bebomben lässt«, sagt die Aktivistin Mariia Merzliakova nach der Aktion. Beim Sprechen bebt der russischen Studentin die Stimme. Für ihren stillen Protest sei die Gruppe mehrfach beleidigt worden – unter anderem auf Russisch. »Ich glaube, die wussten gar nicht, dass hier auch Russinnen liegen.«
Auch die Ukrainerin Lika Petrychenko hat sich aus Protest gegen den Krieg eine Stunde lang auf den Boden gelegt. »Es kamen Frauen, die uns gesagt haben, dass wir lieber aufstehen und Kinder kriegen sollen«, sagt sie. Ihre Familie und Freund*innen lebten noch in der Ukraine. Mit der Aktion ist sie im Großen und Ganzen zufrieden: »Wir haben hier für Diskussionen gesorgt und das war auch das Ziel der Performance.«
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