Abenteurer und rasender Reporter

Jürgen Seidel über den Jahrhundertzeugen Walter Kaufmann und dessen Bücher

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 4 Min.

Weil ich mich mit ihm und Lissy gut verstand, etliche Bücher von ihm rezensiert, Veranstaltungen moderiert und ein ausführliches Video-Gespräch mit ihm geführt hatte, meinte ich, mit Walter Kaufmann eng befreundet gewesen zu sein. Wie vermessen! Diese Überzeugung müssen viele Menschen haben.

Walter war der stärkste Menschenmagnet, der mir je begegnet ist. Davon zeugt – nachdem er uns vor einem Jahr verlassen hat – noch immer seine Literatur, die als unendliche Abfolge von Begegnungen gelesen werden kann. Walter kam ungewöhnlich leicht mit Leuten ins Gespräch und wirkte so vertrauenerweckend, dass sie ihm schnell ihre größten Sorgen mitteilten. Dass diese größten Sorgen immer komplex und voller Widersprüche sind, ist eine Binsenweisheit.

Damit aus einer mehr oder weniger zufälligen Alltagsbegegnung eine Story wird, muss der Schreibende Menschenkenntnis und Interpretationsfähigkeit besitzen. Das erforderliche empathische Talent war Walter angeboren. Aber wie schuf er die erzählerische Spannung? Seine Geschichten beginnen mit unspektakulären Beschreibungen der Alltagssituation, in die er sich selbst begeben hat, schildern die Begegnung und treffen dann plötzlich auf den explosiven Fokus des ihm anvertrauten Gewirrs von – meist gesellschaftlichen – Widersprüchen, in denen sein Gegenüber gefangen ist.

Kapitalismuskritisches Bewusstsein ist ihm zugewachsen als Matrose in der Gewerkschaft der australischen Handelsmarine, die wirkungsmächtige Klassenkämpfe ausfocht. Hinzu kam seine Erfahrung als aus Deutschland vertriebener jüdischer Jugendlicher, der auf sich allein gestellt, erwachsen werden musste. Seine Weltsicht war – wie man heute sagen würde – authentisch. In der Seemannsgewerkschaft, in der auch ein Literaturclub gedieh, wurde er zum »schreibenden Matrosen«. Schon im fernen Australien konnte er einen äußerst spannenden Roman verfassen über die Bedrängnisse, in die Menschen im nazistischen Duisburg gerieten, wenn sie arm oder rassistisch verfolgt waren. Bereits dieser Erstling »Voices in the storm« wurde ein großer Erfolg.

Die meisten von Walters Büchern sind vergriffen und stehen in Gefahr, vergessen zu werden. Da ist es gut zu wissen, dass viele von der Edition Digital als E‑Books zur Verfügung gestellt werden. Und wer sich erst einmal einen Eindruck von Walter Kaufmanns Gesamtwerk machen möchte, dem sei ein in diesem Verlagshaus publizierter Werbeband empfohlen. Der als Journalist und Kommunikationstrainer tätige Jürgen Seidel hat mit glücklicher Hand Leseproben aus Walters Büchern ausgesucht und zu einem überaus packenden Leseerlebnis gebündelt.

Nach der Lektüre kommt mir der Gedanke, dass Walter durchaus als Hemingway der DDR bezeichnet werden kann. Denn er behielt zeitlebens das Flair eines Seemanns, ja, eines Abenteurers. Walter war zu einem Zeitpunkt in die DDR gekommen, als den sogenannten Westemigranten nicht mehr auferlegt wurde, ihre Pässe gegen einen DDR-Pass zu tauschen. Genau das hatte ihm selber vorgeschwebt, aber er wurde überzeugt, sich mit einem Fremdenpass zufriedenzugeben und seinen australischen Pass zu behalten. Damit konnte er die Schwierigkeiten umgehen, die DDR-Bürger bei der Beschaffung von Visa für westliche Länder hatten. Pass und seine englischen Sprachkenntnisse prädestinierten ihn, zum »fliegenden Reporter« der DDR in der anglophonen Welt zu werden – was mich jetzt natürlich dazu bringt, ihn auch dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch anzunähern.

Seidel stellt nicht die vielleicht bekannteren Gespräche von Walter mit der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis vor, sondern Begegnungen mit einfachen US-Bürgern: eine 70-Jährige, die im Vestibül seines Hotels Zeitungen verkauft, um die Miete für eine Bruchbude aufzubringen, wo sie nicht einmal der eigene Sohn besucht. Oder ein Pfarrer aus Birmingham, der ihm erzählt, dass er einem Verein vorsteht, der unehelich schwanger gewordenen Mädchen und Frauen zur Abtreibung in New York verhilft, weil diese in Alabama streng geahndet werde. Ergreifend sind auch Walters Reportagen aus dem Krisengebiet Nordirland. Seine dortigen Erlebnisse goss er, ohne etwas von der grausamen Wirklichkeit abzuschneiden, sogar in zwei Kinderbücher. Wichtig waren auch Walters »Reisen ins gelobte Land«. Nach Israel konnten auch jüdische DDR-Bürger nicht ohne Weiteres gelangen. Walter führt in das Widerspruchsknäuel von Neu- und Alteingewanderten, Kibbuzniks, Friedensbewegten und Palästinensern, die um Recht und Würde kämpften.

Mit seinem Pass und der – aus der Not der Vertreibung geerbten Weltläufigkeit – war Walter Kaufmann in der DDR privilegiert. Er war sich dessen bewusst und brach nicht den Stab über Menschen, die das Eingeschlossensein nicht ertrugen und besonders dann aus dem Land strebten, wenn sie unter Ungerechtigkeiten litten, so ein langjähriger Freund, ein Arzt. Walter hielt ihm die Freundschaft auch nachdem dieser in die Bundesrepublik gegangen war. Das war das Thema des großartigen Romans »Flucht«, der 1984 (!) vom Mitteldeutschen Verlag publiziert wurde. Er handelt auch von einer persönlichen Flucht Walters, der sich von seiner Ehefrau, der Schauspielerin Angela Brunner, zeitweilig getrennt hatte und mit der im Berliner »Lindenkorso« auftretenden afroamerikanischen Blues-Sängerin Etta Cameron zusammenlebte. Sie wiederum war vor ihrem Mann geflohen; beide hatten Kinder zurückgelassen.

Ach ja, Walter Kaufmann und die Frauen – auch noch so ein Thema! Ein andermal.

Jürgen Seidel: Begegnung mit einem Jahrhundertzeugen. Walter Kaufmann und seine
Bücher. Edition Digital, 236 S., br., 14,80 €.

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