- Kultur
- Glam-Rock
Pathos, Glitzer, Mehrdeutigkeit
Auch schon wieder 50 Jahre her: Die Entdeckung von Glam-Rock mit David Bowie und Roxy Music
Zu Beginn der 70er Jahre ist die Topographie der Popmusikwelt nur auf den ersten flüchtigen Blick überschaubar. Bilder von den Protagonist*innen gibt es nur wenige. An einen Quantensprung wie das gut zehn Jahre später auftauchende Musikfernsehen denkt noch niemand. Die Charts und der sogenannte Underground kommen sich so gut wie überhaupt nicht in die Quere und daher sind die unterschiedlichen habituellen Codes der jugendlichen Fans noch ziemlich leicht zu entziffern.
Am 16. Juni 1972 kommt aber hör- und spürbar frischer Wind auf. An diesem Tag erscheinen in Großbritannien »The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars« von David Bowie und das erste Studioalbum von Roxy Music. Glam-Rock, bislang nur andeutungsweise präsent (zum Beispiel bei T. Rex und Mott the Hoople, der einzigen Band, bei der Queen jemals Vorgruppe waren), erfährt hier musikalische und visuelle Anreicherungen, deren Spuren und Folgen sich bis heute genreübergreifend nachzeichnen lassen (zum Beispiel bei Nina Hagen, Crass, Elton John, Bob Marley).
Auf dem Konzeptalbum von David Bowie wird die Kunstfigur Ziggy Stardust zum Leben erweckt. Zwar lässt Bowie anderthalb Jahre später Ziggy Stardust wieder ableben, mit ihren Anspielungen, Zitaten und Zitatvorlagen lassen sich aber darüber auch noch heute prima umfangreiche Dissertationen in den kulturwissenschaftlichen Fächern schreiben. Hier wird das pathetisch glitzernd Theatralische des Glam von einem Individuum bewältigt. Das hat es bis dahin nicht gegeben. Bowie erzählt die dramatische Geschichte eines jesusartigen Rockstars, der visionär vor dem Weltuntergang warnt und Rettung durch Außerirdische verspricht. Durch dessen Verkörperung auf der Bühne wurde Bowie selbst zum Rockstar. Anspieltipps: »Starman«, »Suffragette City« und selbstverständlich das Titellied.
Hat Ziggy eine sehr individuelle Theatralik, so ist Roxy Music ein Glam-Entwurf für das Kollektiv. Das ikonische Cover ihres Debütalbums mit der sich über Vorder- und Rückseite liegenden Dame und den Outfitvarianten der verschiedenen Bandmitglieder auf der Innenseite wird berühmt. Die Fachzeitschrift »Rolling Stone« setzt 2013 das Album auf Platz 62 der 100 besten Debütplatten mit den Worten: »In England in the early Seventies, there was nerdy art-rock and sexy glam-rock and rarely did the twain meet. Until this record, that is.« Anspieltipps: »Re-Make/Re-Model«, »Ladytron« und »2HB«.
Glam-Rock mit seinem Pathos und Glitzer bleibt den Briten vorbehalten. Sweet (Middlesex) und Slade (Wolverhampton) zählen zu den bekanntesten Vertretern. Mit der speziellen Ästhetik des Glam und dessen ironisch gebrochenem Spiel mit sexueller Mehrdeutigkeit können andere Popkulturnationen in den 70er Jahren so gut wie nichts anfangen. Zu vermuten bleibt, dass im britischen Glam-Rock und seiner Inszenierungspraxis eher Traditionslinien aus dem Theater Shakespeares aufgegriffen werden. Erst die Popglobalisierung durch Musikfernsehen und später das Internet lassen dieses Genre auch in anderen Popnationen auftauchen, wenn auch nicht in dieser britischen Dichte. Alljährlich kann man die aktuellen Versionen zum Beispiel sehr schön beim Eurovision Song Contest sehen.
So ist es zwar nicht vorhersehbar, aber auch nicht verwunderlich, dass nur einige Jahre später in ebendieser Popnation mit Punk eine weltweit die Popkultur beeinflussende Bewegung entsteht, die gleichfalls ein komplettes Set anbietet aus eigener Ästhetik, pathetischer Inszenierung und sowohl individuell als auch im Kollektiv verwendbar ist. Mit den etwa zeitgleich die Popwelt dominierenden Phänomenen Disco und »Star Wars« zählt das Ende der 70er Jahre zu den größten Umbruchphasen im Pop. Die Anfänge dazu lassen sich bis auf diesen einen Tag im Juni 1972 zurückführen. Es bleibt ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Jahr: Am 21. Dezember wird der Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR unterzeichnet.
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