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Auf der Straße zurückschlagen
Drei Jahre nach dem großen Frauenstreik stehen Frauenrechte in der Schweiz immer noch unter Beschuss
Was am 14. Juni 2019 auf den Straßen der Schweiz geschah, scheint noch nicht bei allen in den Kammern des Parlaments angekommen zu sein. Obwohl damals mit dem Frauenstreik die größte politische Bewegung seit dem Landesstreik von 1918 auf die Straße gedrängt war – eine halbe Millionen waren auf den Straßen – und der Druck in manchen Bereichen, wie bei der Neuausarbeitung des Sexualstrafrechts, zu Fortschritten führte, die selbst die konservativsten Abgeordneten nicht verhindern konnten, gehen bürgerliche und religiöse Kreise immer noch gegen die Rechte von Frauen und Mädchen vor.
So versuchen gleich zwei eidgenössische Volksinitiativen, das Recht auf Abtreibung einzuschränken. Darum wird auch für dieses Jahr am 14. Juni in unzähligen Städten zum Frauenstreik mobilisiert. Und nicht nur im Bereich Fristenregelung kommt es zu Angriffen, wie die sozialdemokratische Nationalrätin und Co-Präsidentin der SP-Frauen Tamara Funiciello am Samstag im Gespräch mit dem »nd« erklärt: »Besonders am Herzen liegt mir aktuell, dass wir die Altersvorsorge 2021 bekämpfen. Die verschlechtert vor allem die Situation der ärmeren Frauen.«
Die Pläne von Bundesrat und Parlament, das Renteneintrittsalter der Frauen auf 65 zu erhöhen (aktuell liegt es bei 64, das der Männer bereits bei 65), würden sich vor allem auf jene auswirken, die es sich nicht leisten können, in die Frühpension zu gehen. »Es ist ein Backlash – was die bürgerlichen Politiker*innen da machen, ist ganz schlimm. Sie nutzen unsere Parolen für ihre ›Pseudo-Gleichstellung‹, und dabei wird völlig ignoriert, dass es gerade im Feminismus eben auch eine Klassenperspektive gibt.«
Diese Klassenperspektive käme in der aktuellen Debatte zur Altersvorsorge völlig abhanden. Laut Funiciello würden die Bürgerlichen die Gleichstellungsslogans der Frauenstreikbewegung missbrauchen, um eine »Pseudo-Gleichstellung« voranzutreiben. »Wir sind auch auf die Straße gegangen, als die Frühpensionierung bei den Bauleuten angegriffen wurde, von denen ja die meisten Männer sind. Das hat letztlich nichts mit Mann oder Frau, sondern mit oben oder unten zu tun«, erklärt Funiciello.
»Wer es sich leisten kann, geht auch heute schon mit 62 Jahren in Rente. Da darf es nicht sein, dass man im Namen der Gleichstellung die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter in diesem Land verschlechtert.« Darum will Funiciello jetzt auch nicht lockerlassen: »Jetzt ist der Moment! Jetzt müssen wir Druck machen. Es ist möglich, all diese Dinge abzuwenden. Wir können die Situation der Frauen in diesem Land verbessern. Aber dafür braucht es weiter Druck. Und zwar von der Straße – im Parlament alleine werden wir nichts verändern!«
Es ist bereits die dritte Neuauflage des Frauenstreiks von 1991. Damals waren die Schweizerinnen anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Gleichstellungsartikels zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen. Viele Aktivist*innen trugen damals Transparente, auf denen Schnecken abgebildet waren – eine Spitze gegen die schleppende Geschwindigkeit, die die etablierte Politik bei der Gleichstellung vorlegte. Und tatsächlich: Im europäischen Vergleich waren die Schweizer extrem langsam, wenn es um die Sache der Frauen ging.
So hatten die Bewohner von Appenzell Innerrhoden nicht einmal ein Jahr vor dem Frauenstreik noch gegen die Einführung eines kantonalen Frauenstimm- und Wahlrechts gestimmt. Das Bundesgericht musste den störrischen Bergkanton in der Folge zur Einführung des Wahlrechts für Frauen zwingen. Vielerorts ist die Kinderbetreuungsstruktur schlecht. Die hohe Nachfrage führt zu hohen Preisen, und subventionierte Plätze sind rar. Viele Arbeiterinnen werden so bei der Familiengründung aus dem Erwerbsleben gedrängt. Ökonomische Abhängigkeit vom Mann und Altersarmut wegen Lücken bei den Rentenbeiträgen sind die Folgen.
Für die Schweizerinnen gibt es immer noch reichlich Gründe zu kämpfen. Dabei muss man aus dem Frauenstreik 2019 auch eine Lehre ziehen. Damals war eine so machtvolle Bewegung auf den Straßen präsent, dass es unmöglich war, sie zu ignorieren. Die Frauenstreikbewegung hat damit bewiesen, dass sie wie niemand sonst im Land politischen Druck aufbauen kann. Damit sich diese Verve auch in neue politische Realitäten übersetzt, muss verstärkt ökonomischer Druck aufgebaut werden.
Streikaktionen und Walk-outs gab es bereits 1991 und 2019. Mit dem Frauenstreik 2022 und dem im kommenden Jahr, der laut einer Zürcher Aktivistin in Größe und Durchschlagskraft wieder an den von 2019 anknüpfen soll, wird es dafür Gelegenheit geben.
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