Wie katholische Milieus sexualisierte Gewalt fördern

Kirchenobere, Gemeindemitglieder und Angst sorgten für ein Klima, in dem Missbrauch möglich war

Joseph Hermes war Anfang der 1950er Jahre Propst im oldenburgischen Vechta. Das Gebiet in Niedersachsen gehört traditionell zum Territorium des Bistums Münster. Es ist tief katholisches Land, gerade in der Nachkriegszeit. Die Kirche bestimmt das Leben. Ihre Feste sind die großen Feste. Ihre Termine sind die wichtigen Termine. Sie sorgt für Ordnung. »Der Pfarrer stand immer im Zentrum des Geschehens, ihm wurde mit Respekt begegnet und er kannte die Sünden jedes seiner ›Schafe‹«, heißt es in der Münsteraner Missbrauchsstudie über das katholische Milieu auf dem Land. Für einen Pfarrer wie Joseph Hermes eine ideale Umgebung, um seine pädophilen Neigungen auszuleben. Mehrere Jungen werden von ihm begrapscht. Doch die Gemeinde schweigt. Sorgen bereitet erst ein Junge, der zum Konversionsunterricht zu Hermes geht und sich nach Übergriffen seiner Mutter offenbart. Sie nimmt ihn aus dem Unterricht. Aus Sorge, das Verhalten von Hermes könnte einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden, besucht ein Vorgesetzter des Priesters die Mutter. Er will diese von einer Anzeige abhalten. Die Mutter jedoch will den Geistlichen gar nicht anzeigen. Sie ist alleinerziehend und Protestantin. Deswegen hat sie Sorgen, dass eine Anzeige dazu führen könnte, dass sie und ihr Sohn in Vechta als Störenfriede markiert würden. Für die Kirche sind die Taten des Pfarrers damit erstmal vom Tisch. Eine weitere Tat und das Glück, dass der Onkel des Betroffenen nicht aus Vechta kommt und als Lehrer eine gehobene Stellung hat, bringen die Taten von Pfarrer Hermes dann vor Gericht.

Normal verläuft der Prozess gegen den Pfarrer allerdings nicht. Er wird von Vechta an den Niederrhein verlegt und Würdenträger sind im engen Austausch mit Staatsanwaltschaft und Polizei. Die Taten von Hermes lassen sich nicht abstreiten. Aber eine Verletzung aus dem ersten Weltkrieg bietet für das Gericht die Möglichkeit, ihn für nicht zurechnungsfähig zu erklären. Später müssen Hermes’ Vorgesetzte ihn bremsen, nicht zu offensiv als Priester tätig zu sein. Das würde ein schlechtes Licht auf seine angebliche Unzurechnungsfähigkeit werfen.

Keine 20 Jahre später, ein anderer Fall. Pfarrer Heinz Pottbäcker wird 1967, schon kurz nachdem er Pfarrer geworden ist, wegen Missbrauchs an Schutzbefohlenen verurteilt. Pottbäcker kommt mit einer Bewährungsstrafe davon. Das Gericht glaubt, er werde in Zukunft ein »gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen«. Auch das Bistum ist davon offenbar überzeugt. Es versetzt Pottbäcker. Der kommt wieder in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Anders als Hermes, der in den 1950er Jahren eine Autorität ist, gibt sich Pottbäcker in den 1970er Jahren betont locker. Er lädt die Minderjährigen zum Musikmachen auf exotischen Instrumenten in seine Wohnung ein. Bei Ferienfreizeiten greift er gerne zur Gitarre. Betroffene und Gemeindemitglieder bezeichnen ihn als charismatisch. Heinz Pottbäcker wird immer wieder übergriffig. In seiner Priesterkarriere durchläuft er insgesamt 14 Stationen. Ein Prozess 1983 endet mit einer Geldstrafe. Pottbäcker ist das, was man heute Intensivtäter nennt. Ein Mitglied von einer Selbsthilfegruppe spricht von 50 bis 100 Betroffenen. Und die Bistumsleitung? Die versetzt den Priester immer wieder, verbietet ihm auch irgendwann, mit Kindern und Jugendlichen tätig zu werden. Aber bis ins hohe Alter wird er immer wieder ermahnt, keine Kinder in seine Wohnung zu holen. Echte Konsequenzen fehlen.

Die Darstellung einzelner Täter in der Missbrauchsstudie verdeutlicht mehrere Punkte. Missbrauch konnte über Jahrzehnte stattfinden. Er wurde von der Kirchenleitung und auch von Laien allzu oft geleugnet, vertuscht oder als Randphänomen abgetan. In einem Milieu, in dem den Geistlichen große Autorität zugesprochen wurde, durfte nicht sein, was passiert ist. Die bigotte katholische Sexualmoral begünstigte und begünstigt auch heute noch sexualisierte Gewalt.

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