Desinfektion ist nicht alles

Vor Corona schützt übertriebene Hygiene kaum. Dafür kann sie Gesundheit und Umwelt schaden

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Einkaufen ohne Maske, Gedränge in der U-Bahn, volle Konzertsäle: Mehr als zwei Jahre nach dem ersten Lockdown ist in Deutschland weitgehend Normalität eingekehrt. Viele Corona-Regeln wurden gelockert oder aufgegeben. Hartnäckig hält sich aber der Boom der Desinfektionsmittel: Kaum ein Geschäft, Café oder Museum, in dem nicht ein entsprechender Spender zur Händedesinfektion hängt – teils verbunden mit der ausdrücklichen Bitte, diesen zu nutzen. Auch wer privat feiert, stellt gern vorsorglich eine Flasche Desinfektionsmittel bereit. Eine erfreuliche Entwicklung?

Was das Coronavirus betrifft, ist die Sache relativ klar: Ob man sich bei Betreten eines Supermarkts die Hände desinfiziert oder nicht, beeinflusst das Infektionsrisiko nicht wirklich, wie der Hygieneexperte Günter Kampf aus Hamburg erklärt. »Inzwischen ist längst klar, dass unbelebte Flächen bei der Übertragung praktisch keine Rolle spielen.« Zu Beginn der Pandemie gab es noch Unsicherheiten, da sich in Studien zeigte, dass Sars-CoV-2 unter Laborbedingungen tagelang auf Oberflächen nachweisbar war. Deshalb gab es Befürchtungen, man könnte sich über Pakete aus China anstecken. Bald stellte sich heraus, dass dies unbegründet ist. Laut Robert-Koch-Institut gibt es keine Belege dafür, dass das Virus außerhalb des Gesundheitswesens jemals über kontaminierte Oberflächen übertragen wurde.

Waschen oder desinfizieren?

Waschen: Im Alltag reicht es normalerweise, sich die Hände mit Wasser und Seife zu waschen. Schmutz und Krankheitserreger werden dadurch vor allem mechanisch entfernt. Dabei ist Sorgfalt gefragt: Erst die Hände unter fließendes Wasser halten, dann gründlich einseifen und unter fließendem Wasser abspülen. Auf öffentlichen Toiletten sollte man den Hahn mit einem Einwegtuch oder dem Ellbogen schließen. Anschließend trocknet man sich die Hände gründlich ab – unterwegs mit einem Einmalhandtuch, daheim mit einem persönlichen Handtuch.
Desinfizieren: Händedesinfektion entfernt keinen Schmutz, sondern macht Krankheitserreger unschädlich. Wichtig ist sie da, wo es viele Erreger gibt und wo sich geschwächte Menschen aufhalten – also vor allem im Krankenhaus. Auch Arztpraxen sind sensible Bereiche, in denen Hygiene eine besondere Rolle spielt. Abgesehen davon kann eine Händedesinfektion im Alltag sinnvoll sein, wenn man sich längere Zeit nicht die Hände waschen kann – etwa auf Reisen. Flächen müssen in Privathaushalten nicht desinfiziert werden. ast

Eher vorstellbar ist eine Übertragung von Hand zu Hand: wenn ein infizierter Mensch etwa in die Hand hustet und diese jemandem zum Gruß reicht, der sich anschließend an Mund oder Augen fasst. Das Szenario lässt sich auch ohne Desinfektion vermeiden, indem man in die Ellenbeuge hustet und auf den Handschlag verzichtet.

Dennoch hat die Coronakrise Desinfektionsmitteln aller Art einen Umsatzschub beschert. »Wir sollten wieder vom exzessiven Gebrauch solcher Mittel wegkommen und uns rückbesinnen«, sagt Petra Gastmeier, Professorin für Hygiene an der Charité in Berlin. »Sie haben auch Nachteile für Gesundheit und Umwelt.«

Grundsätzlich gelten für Kliniken oder Pflegeheime andere Regeln als für Hotels oder Privatwohnungen: Außerhalb des Gesundheitssektors braucht das Umfeld keineswegs steril zu sein. Gerade für Kinder ist die Auseinandersetzung mit Keimen sogar wichtig, um ein gesundes Immunsystem aufzubauen.

Immerhin schneidet die Händedesinfektion im Vergleich zu anderen Putz- und Hygieneaktivitäten relativ gut ab. Sie kann nützlich sein, ohne viel Schaden anzurichten – zumindest dann, wenn der Wirkstoff der entsprechenden Mittel auf Alkohol basiert. »Alkohol wirkt sehr schnell, sehr breit und verflüchtigt sich rasch«, sagt Ernst Tabori, Ärztlicher Direktor des Deutschen Beratungszentrums für Hygiene in Freiburg. Bei korrekter Anwendung gebe es so gut wie keine negativen Folgen für Gesundheit oder Umwelt. Rückfettende Stoffe, die viele Produkte enthalten, schützen die Haut zudem vor Austrocknung. Zwar können die Spender, die während der Pandemie vielerorts aufgehängt wurden, keine Ansteckungen mit dem Coronavirus verhindern. Tabori ist aber davon überzeugt, dass damit Krankheiten, die anders als Covid-19 vor allem über die Hände übertragen werden, eingedämmt werden. Auch die zuletzt massiv gesunkene Zahl an Grippe-Erkrankungen führt er unter anderem darauf zurück.

»Ich bin gegenüber solchen Spendern in Bereichen, wo keine Möglichkeiten zum Händewaschen gegeben sind, gar nicht abgeneigt«, sagt Tabori. »Kann man sich nämlich nicht die Hände waschen, ist die Händehygiene über das Desinfizieren durchaus ein Zugewinn.« Wer am Türknopf der Straßenbahn Erkältungsviren aufgegriffen hat, kann sie durch Desinfizieren im nächsten Laden inaktivieren, bevor er sich an die Nase fasst. »Allerdings«, betont er, »ist ein zusätzliches Desinfizieren nach dem Händewaschen unnötig.«

Gastmeier sieht die omnipräsenten Spender und Flaschen weniger positiv. Sie stünden meist für einen gewissen Corona-Aktionismus nach dem Motto: »Seht her, wir sind an dem Thema dran!« Im Alltag setzt sie grundsätzlich auf normales Händewaschen. »Wenn das ausnahmsweise nicht geht, zum Beispiel auf Reisen, ist eine Händedesinfektion sinnvoll«, sagt sie. Dazu empfiehlt sie ein duft- und farbstofffreies Mittel auf Alkoholbasis. Ein Problem bei den Spendern in Läden, Restaurants etc. ist jedoch, dass der Kunde oft nicht so genau weiß, womit er seine Hände in Berührung bringt. Für Menschen mit einer Duftstoff-Unverträglichkeit zum Beispiel können schnell Probleme entstehen, wenn eben doch ein Produkt mit problematischen Substanzen aufgestellt wird. »Deshalb ist es kritisch, wenn man dazu genötigt wird, sich die Hände zu desinfizieren«, sagt Gastmeier.

Auch Kampf empfiehlt, bei der Handhygiene wieder auf »Normalmodus« zu schalten. »Wenn man nach Hause kommt, sollte man sich immer gründlich die Hände waschen, um keine Keime einzuschleppen. Dass das etwas bringt, ist auch erwiesen.« Viel skeptischer als die Händedesinfektion sieht er aber die Flächendesinfektion: Sie ist außerhalb des Gesundheitssektors in der Regel nicht nur überflüssig, sondern potenziell schädlich. Die Mittel enthalten häufig Substanzen, die möglicherweise die Haut reizen, Allergien befördern und der Umwelt schaden. Daher plädiert er dafür, Tische, Fußböden oder Türklinken im öffentlichen und erst recht im privaten Raum mit ganz normalen Reinigungsmitteln zu putzen und von Desinfektionsmitteln die Finger zu lassen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.