Gysi: Nicht über die Menschen hinweg

Der Linke-Politiker unternimmt einen anschaulichen und kritischen Rundgang durch die Sprache der Politik

Gregor Gysi als Redner zu lobpreisen, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Das ist schon mal der denkbar ungeeignetste Einstieg in einen Text über seine Rhetorik, denn abgedroschene Sprachbilder dieser Art verkneift er sich konsequent. Wäre es anders, hätte ihn der Verband deutscher Redenschreiber (was es auch alles gibt) im Jahre 2013 nicht zum besten Redner im seinerzeitigen Bundestagswahlkampf gekürt.

Im gleichen Jahr übrigens wählte das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen, lange Zeit geleitet vom legendären Walter Jens, eine Bundestagsrede Gysis zum Thema NSA-Überwachung zur Rede des Jahres. War die zeitliche Nähe kalendarischer Zufall? Vielleicht lag es auch daran, dass Die Linke damals auf dem Höhepunkt ihrer politischen Wirkung und Wählerzustimmung angekommen war und anders, auch positiver im Blickpunkt stand als später.

Jedenfalls hieß es in der Tübinger Preisbegründung, Gysi beherrsche »die Klaviatur der Ausdrucksmöglichkeiten wie kaum ein anderer politischer Redner unserer Zeit« und zeichne sich durch eine große Spontaneität und Schlagfertigkeit aus. Und in der Tat: Da macht ihm so schnell niemand etwas vor. Wobei sein Metier vor allem das gesprochene Wort ist. Nicht umsonst ist er längst auch Moderator, Gastgeber in mehreren Gesprächsreihen; nicht nur der Antwortende, sondern auch der Fragende, Zuhörende. »Jedes Beisammensein braucht einen Schweiger«, heißt es in Theodor Fontanes Roman »Der Stechlin« – eine Rolle, die Gysi selten übernimmt. Zahlreiche Bücher sind inzwischen erschienen, in denen er andere befragt, andere ihn befragen. Oder in denen seine Bonmots gesammelt sind. »Freche Sprüche«, wie einer der Titel lautet.

Nun also ein neues Buch von Gysi, über die und auch über seine Rhetorik. »Was Politiker nicht sagen« ist natürlich kein theoretisches Lehrbuch; es ist ein plauderndes, anregendes Erzählen aus Gysis politischer Entwicklung und Praxis, mit Ausflügen ins Familiäre. Denn zweifellos bekam Gysi einiges an Begabung in die Wiege gelegt. Ein früherer ND-Redakteur, der sich zu DDR-Zeiten und auch noch Anfang der 90er Jahre um kirchenpolitische Fragen gekümmert hatte, erzählte gelegentlich von »Gysi, dem alten Schwadroneur«. Er meinte freilich nicht Gregor Gysi, sondern dessen Vater Klaus, der in der DDR unter anderem Staatssekretär für Kirchenfragen und Botschafter beim Vatikan gewesen war. Gregor Gysis Eltern hatten aus der Zeit des antifaschistischen Widerstands und des Exils viele Freunde in Westeuropa, die zu Besuch nach Ostberlin kamen – und den Kindern eine andere Welt eröffneten. Eine Schule offenbar auch des offenen Diskutierens und Streitens, der Dialektik und des Witzes.

Als Gregor Gysi die politische Bühne betrat, im Herbst 1989, war das eine Ausnahmesituation. Die DDR, vor allem die SED-Herrschaft brach zusammen, seine Partei stand am Abgrund; es war entscheidend auch Gysis Ausstrahlung weit über die eigene Partei hinaus zu verdanken, dass die sich immer wieder wandelnde PDS überhaupt die Chance hatte zu überleben. Was nach außen leichtfüßig und lässig wirkte, war eine harte Schule.

Gysi beschreibt in dem Buch seine erste »TV-Talkrunde« (damals hieß es wohl noch nicht Talkshow) vor mehr als 30 Jahren, in der Wendezeit 1989/90. Eben erst war er zum Vorsitzenden der SED-PDS gewählt worden, er war in ein Hamburger Fernsehstudio eingeladen. Drei Moderatoren, drei oder vier andere Gesprächsgäste. Er erinnert sich an die aufgeheizte Stimmung, die harten Angriffe. Nach der Sendung verließ er frustriert das Gelände des Studios, der Pförtner hielt ihn auf und überreichte ihm eine Flasche Champagner und eine Karte. Darauf stand, geschrieben von einem anonymen Absender: »Gerade habe ich die Sendung gesehen. Die Angriffe waren abscheulich.« Er solle sich beim Champagner erholen und sich nicht entmutigen lassen.

Bald war Gysi so etwas wie ein geheimer König des deutschen Politiktalks – geachtet über Parteigrenzen hinweg, trotz aller Attacken beliebt, ein Sympathieträger. Journalisten lauschten ihm ebenso teils beeindruckt, teils verzückt wie Gesprächspartner. In einer Magisterarbeit sei seine Rhetorik untersucht worden, erzählt Gysi in dem Buch. Er habe ein paar Seiten gelesen und eine Beobachtung gefunden, die er bestätigen könne. Der Linke-Politiker, schrieb der angehende Magister, rede nicht einfach nur, sondern er versuche, seine Zuhörer in ein Gespräch zu verwickeln. In einen Dialog, bei dem er die Zuhörer anspricht, Fragen stellt und beantwortet, das Publikum einbezieht.

Da mag ihm sein Anwaltsberuf helfen, seine Fähigkeit, auf eine Gegenseite einzugehen, genau zuzuhören, zu reagieren. Nicht umsonst wurde ihm gelegentlich attestiert, eher wie der Anwalt als der Vorsitzende seiner Partei zu agieren. »Ich möchte meine Stimme erheben, aber nicht über die Menschen hinweg«, schreibt er. Weshalb er in seinen Reden auch politisch-juristische Wortungetüme ins Verständliche übersetzt, beispielsweise »Änderung der Veräußerungserlösgewinnsteuer«, sodass hinter der sprachlichen Verschleierung der Kern der Sache erkennbar wird: eine sozialpolitische Schweinerei.

Gysis Buch ist kein kleines Sprachseminar, sondern lebhafte, angewandte Rhetorikkunde, auch eine Kritik an politischen Routinen und Zuständen, an der Abgehobenheit der politischen Klasse. Und es ist ein mit vielen Anekdoten illustrierter Spaziergang durch gut 30 Jahre gesamtdeutscher Politik. Dem Buch vorangestellt ist ein Motto: »Bevor Politiker Fragen beantworten, quatschen sie erst mal lange, damit sie nicht so viele Fragen beantworten müssen.« Ein typischer Gysi-Satz. Wer je ein Interview mit ihm geführt oder eine Veranstaltung mit ihm erlebt hat, der weiß, wie lange er ununterbrochen redet, solange ihm niemand ins Wort fällt. Also eine versteckte Selbstkritik? Gut möglich. Denn das ist auch ein Markenzeichen des Gregor Gysi und ein Teil seines rhetorischen Erfolgs: dass er wie wenige andere Politiker in der Lage ist, sich selbst mit einer gewissen Ironie zu betrachten.

Gregor Gysi: Was Politiker nicht sagen. Econ, 271 S., geb., 22 €.

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