Sexualaufklärung vor Gericht

Der Künstlerin und Aktivistin Julia Zwetkowa droht in Russland eine lange Haftstrafe

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 3 Min.

Illegale Herstellung von pornografischem Material und dessen anschließende Verbreitung im Internet. Wegen dieses Vorwurfs hat die Staatsanwaltschaft von Komsomolsk am Amur in Russlands Fernem Osten die Künstlerin und LGBT-Aktivistin Julia Zwetkowa diese Woche vor Gericht gestellt. Bei einer Verurteilung drohen der 29-Jährigen drei Jahre und zwei Monate Haft in einer Strafkolonie. Maximal wären sechs Jahre möglich gewesen.

Die Anklage wirft Zwetkowa vor, im sozialen Netzwerk Vkontakte die Gruppe »Vagina-Monologe« moderiert zu haben. In der öffentlichen Gruppe veröffentlichten die ehemalige Studentin der London Film School und Leiterin eines Jugendtheaters sowie befreundete Künstlerinnen Zeichnungen des weiblichen Geschlechtsorgans und von Frauenkörpern. Es sei ihr dabei nicht um Sex, sondern um eine bodypositive Einstellung gegangen, erklärte Zwetkowa der BBC. »Zwischen Body Positivity und Erotik gibt es einen Unterschied.«

Drohungen und Verfahren

Das sah die Staatsanwaltschaft anders. Bereits 2019 wurde das Verfahren gegen Zwetkowa eröffnet. Verhaftung und Wohnungsdurchsuchung fanden öffentlichkeitswirksam vor laufenden Kameras statt, die Bilder liefen anschließend in den Nachrichten. Von Ende November 2019 bis Mitte März 2020 wurde Zwetkowa unter Hausarrest gestellt. Seitdem darf sie Komsomolsk am Amur nicht verlassen. Anschließend wurde Zwetkowa mehrfach zu Geldstrafen verurteilt. 50 000 Rubel (850 Euro) musste sie wegen feministischer und LGBT-Gruppen bei Vkontakte zahlen, später noch einmal 75 000 Rubel (1300 Euro) wegen einer Zeichnung mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Es folgten Drohungen von homophoben Organisationen und Pädophilie-Vorwürfe in den Medien. Auch Fragen wegen angeblicher Verbindungen zur Soros-Stiftung und in die Ukraine sowie nach Großbritannien muss Zwetkowa immer wieder abwehren.

Immer wieder zieht Zwetkowa vor Gericht und klagt gegen Autoren der Drohbriefe und Behörden, die sensible Daten an die Medien weitergeben. Auch dadurch wurde sie landesweit bekannt. Viele oppositionelle Politiker, Künstler und Medienmacher solidarisieren sich mit ihr. Die Zeitschrift »Glamour« kürt sie zur Frau des Jahres 2020, als zweite russische Staatsbürgerin nach der Journalistin Anna Politkowskaja bekommt Zwetkowa 2020 den renommierten Index of Censorship-Preis in der Kategorie Kunst. Gegen die bisherigen Urteile hat die Aktivistin Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Doch Russland fühlt sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine nicht mehr an dessen Urteile gebunden.

Seit Juni »ausländische Agentin«

Bei aller Aufmerksamkeit findet Zwetkowa in ihrer Heimatstadt keine Arbeit. Am 3. Juni stuft das Justizministerium sie als »ausländische Agentin« ein. Obwohl sie seit Jahren nichts mehr in ihrem Blog postet, wird Zwetkowa von den Behörden als Bloggerin und damit als Medienunternehmen betrachtet. Für einen Prozess, diese Entscheidung anzufechten, fehlt das Geld. Überraschend war die Einstufung für Zwetkowa nicht. Die Regierung ernennt seit Monaten immer mehr Menschen und Organisationen zu »ausländischen Agenten«, um diese zu diskreditieren und praktisch mundtot zu machen. Für Zwetkowa ist die Situation dadurch jedoch deutlich schwerer geworden. Im Gegensatz zu denjenigen, die sich im Ausland befinden und ihre Risiken abwägen können, belaste der Status »ausländischer Agent« Betroffene in der Provinz viel stärker, insbesondere, wenn gegen sie auch noch ein Gerichtsverfahren laufe. Das sei eine »bittere Kombination«, so Zwetkowa zur BBC.

Ihre Aussichten im Prozess schätzt Zwetkowa als gering ein. Zumal die Anklage verlangte, alle von der Verteidigung angeführten Zeugenaussagen und Expertengutachten von dem Verfahren auszuschließen. Als bisher einzigen Erfolg hat Zwetkowa im vergangenen Jahr durchsetzen können, dass der Prozess nicht wie geplant unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Die Urteilsverkündung wird am 12. Juli erwartet.

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