»Hunger-Tsunami« rollt an

Welternährungskonferenz in Berlin will Neuausrichtung der Agrarwirtschaft auf den Weg bringen

Die Zahl ist dramatisch: 345 Millionen Menschen sind von akutem Hunger bedroht – ihnen droht der Tod, wenn ihnen nicht mit Nahrungsmitteln geholfen wird. Der Hunger ist längst da: Allein im Sahel betrifft er rund 30 Millionen Menschen: Vertriebene, Dürreopfer, Arme, die sich ihren Bedarf nicht mehr leisten können. Die 345 Millionen Menschen sind nicht zu verwechseln mit den 811 Millionen Menschen, die laut der Welternährungsorganisation Fao global hungern und unter Mangelernährung leiden.

Für die Bundesregierung war diese Entwicklung Anlass genug, um vor dem am Sonntag beginnenden G7-Gipfel im bayrischen Elmau in Berlin am Freitag zu einer Welternährungskonferenz zu rufen. Vorab informierten Außenministerin Annalena Baerbock, Landwirtschaftsminister Cem Özdemir von den Grünen und Entwicklungsministerin Svenja Schulze von der SPD über die Ziele. Schulze merkte an, dass in der Vorgängerregierung, als sie Umweltministerin war, eine gemeinsame Pressekonferenz mit der Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) unvorstellbar gewesen wäre.

Die Ampel-Koalition mag sich über den Kurs im Ukraine-Krieg bei den Waffenlieferungen nicht immer einig sein, Baerbock, Özdemir und Schulze sind es bei der Hungerbekämpfung. Die Herausforderung, die der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine mit sich bringt, kann nur gemeinsam und global bewältigt werden. Schulze erläuterte, rund 400 Millionen Menschen weltweit würden normalerweise mit Lebensmitteln aus der Ukraine versorgt. In vielen Ländern blieben diese Lieferungen jetzt aus, noch mehr Länder litten unter den hohen Weltmarktpreisen infolge des Kriegs in der Ukraine. »Es sind wie immer die Ärmsten, die am stärksten leiden.« Die Bundesregierung werde in diesem Jahr insgesamt rund vier Milliarden Euro zur Bekämpfung des Hungers weltweit investieren.

Was der Hunger mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat, machte Özdemir deutlich: Fünf Millionen Tonnen Getreide habe die Ukraine pro Monat vor dem Krieg auf den Weltmarkt geliefert, im März seien es noch 350 000 Tonnen, im Mai immerhin 1,7 Millionen Tonnen gewesen. Dafür seien kostspielige Alternativrouten über Land per Zug und Lkw aufgebaut worden, die aber, so Özdemir, ganz klar an infrastrukturelle Grenzen stießen. 5 Millionen Tonnen seien auf diesem Wege keinesfalls zu transportieren, es fehle an Waggons und Lkw inklusive Lkw-Fahrer*innen.

Außenministerin Annalena Baerbock rief die internationale Staatengemeinschaft zum entschlossenen Kampf gegen die sich verschärfende Hungerkrise in der Welt auf. »Es werden über 44 Milliarden Euro dieses Jahr gebraucht, die erst zur Hälfte finanziert sind. Es ist eine Hungerkrise, die sich wie eine lebensbedrohliche Welle vor uns auftürmt.« Die Gründe dafür seien zum Teil nicht neu und zum Beispiel im Klimawandel und in den Folgen der Corona-Pandemie zu suchen. »Aber erst Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat aus einer Welle einen Tsunami gemacht«, sagte Baerbock.

Konkrete Zusagen über finanzielle Hilfen waren von der Konferenz nicht zu erwarten. Bei den Beratungen ging es um Wege, Millionen von Tonnen Getreide aus der Ukraine trotz der russischen Belagerung auf den Weltmarkt zu bringen, sowie um humanitäre Hilfe für die am stärksten von Knappheit und Preissteigerungen bei Lebensmitteln betroffenen Länder.

Die Zivilgesellschaft sei, wie Özdemir betonte, ebenso wie der globale Süden bei der Konferenz G7+ als »Plus« vertreten. Aus der Zivilgesellschaft gab es vorab klare Kritik: »Die Welt steckte schon vor dem Krieg in der Ukraine in einer globalen Ernährungskrise. Die Antworten zur Eindämmung von Freihandel und Importabhängigkeiten als einer der strukturellen Ursachen von Hunger sind seit Jahren unzureichend«, sagte Fiona Faye von Afrique Europe Interact. Konkret sollten Agrarfinanzgeschäfte in Krisenzeiten ausgesetzt sowie Handelslimits eingeführt werden, um negativen Auswirkungen der Spekulation zügig entgegenzuwirken.

Es ist eher nicht zu erwarten, dass die Konferenz nach Redaktionsschluss zu solch weitgehenden Beschlüssen gekommen ist. Özdemir mahnte zwar an, dass das Recht auf Ernährung als Menschenrecht endlich durchgesetzt werden müsse. Doch das war schon vor dem Ukraine-Krieg eine leere Phrase. Und seitdem ist es noch schwieriger geworden, auch wenn laut Fao ungeachtet von Ukraine-Krieg und teurem Dünger die Weltgetreideernte in diesem Jahr nach Schätzungen nur unwesentlich geringer ausfallen wird als 2021. Bislang erwartet würden 2,785 Milliarden Tonnen, das wären etwa 23 Millionen Tonnen weniger als im vorangegangenen Wirtschaftsjahr, sagte Josef Schmidhuber, Ökonom bei der Fao. Zur Weltgetreideernte zählen unter anderem Weizen, Mais und Reis. Ob die Ernte zu den Hungernden kommt, ist eine andere Frage. Seeblockaden wie im Schwarzen Meer sind sicher nicht hilfreich. Hunger als Waffe einzusetzen, ist leider eine in der Geschichte der Menschheit gebräuchliche Kriegstaktik.

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