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  • Sozialdrama "Wie im echten Leben"

Autorin spielt Putzfrau

Das französische Sozialdrama »Wie im echten Leben« handelt von unterbezahlten Frauen in einer Reinigungskolonne

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Marianne (Juliette Binoche) will die Welt der prekären Arbeitsbedingungen am eigenen Leib erfahren, um darüber zu schreiben.
Marianne (Juliette Binoche) will die Welt der prekären Arbeitsbedingungen am eigenen Leib erfahren, um darüber zu schreiben.

Zwölf Arbeitskräfte, 230 Schiffskabinen und 90 Minuten Zeit, um alles picobello auf Vordermann zu bringen: So unmenschlich sieht die neue Arbeitswelt von Marianne Winckler (Juliette Binoche) aus, die eigentlich eine renommierte Schriftstellerin ist. Aus Recherchegründen hat sie aber beschlossen, sich die Hände einmal richtig schmutzig zu machen und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in einer Putzkolonne angeheuert. Ihr Vorhaben: Die Welt der prekären Arbeitsbedingungen – wie einst Günter Wallraff als Türke Ali im Buch »Ganz unten« – am eigenen Leib erfahren, um darüber schreiben zu können.

Doch Marianne ist keine Erfindung der beiden Drehbuchautor*innen des Films »Wie im echten Leben«, ihre Figur geht auf die Journalistin und Kriegsberichterstatterin Florence Aubenas zurück. Im Zuge der Wirtschaftskrise 2009 tat sie genau das Gleiche wie Marianne und tauchte anonym in die Welt der prekär Beschäftigten in der nordfranzösischen Hafenstadt Caen ein. Aubenas gab sich ebenso wie Marianne im Film als geschiedene Frau ohne Berufspraxis aus und landete schließlich auf der – ihrem Bestseller den Titel gebenden – Fähre nach Ouistreham, die in der Gegend als miesester Arbeitsplatz für Menschen aus dem Niedriglohnsektor bekannt ist.

Eigentlich wollte die Journalistin nicht, dass »Le Quai de Ouistreham« adaptiert wird, doch die von ihrem Buch begeisterte Juliette Binoche blieb hartnäckig. Schließlich durfte die Oscar-Preisträgerin es mit Aubenas’ Wunschregisseur Emmanuel Carrère und ihr selbst in der Hauptrolle doch noch verfilmen.

Schnell war man sich einig, dass man den Film in der Tradition von Ken Loachs Sozialdramen und Chloé Zhaos »Nomadland« umsetzen würde – das heißt, man beschloss neben Binoche keine weiteren professionellen Schauspieler*innen zu verpflichten.

Direkt vor Ort engagierte Carrère unter anderem die mitreißende Raumpflegerin Hélène Lambert, die preisverdächtig die vielschichtige Christèle spielt. Außerdem entschied sich der Autor und Gelegenheitsregisseur für zwei alte Freundinnen aus Aubenas’ Putzkolonnenzeit: Evelyn Porée verkörpert eindrucksvoll die Vorgesetzte der Reinigungstruppe. Die Szene, in der sie auf einer Abschiedsparty für ihre Kollegin Justine – ebenfalls eine alte Bekannte der investigativen Journalistin – eine ausdruckslose Statue mimt, während die anderen mit allen Mitteln versuchen, ihr eine Regung zu entlocken, gehört zu den komisch-anrührendsten Momenten des Dramas.

Auch Binoche, die eine Autorin spielt, die eine Putzfrau spielt, agiert großartig und wunderbar zurückgenommen mit den vornehmlich weiblichen Laiendarsteller*innen. Nebenbei ist dieser Film, der – zur Grundstimmung passend – im Winter gedreht wurde, nämlich auch noch eine wunderbare Ode an Schwesternschaft und Solidarität unter Frauen.

Zu Beginn des Dramas stürzt Christèle stocksauer ins Arbeitsamt und stellt ihre Sachbearbeiterin, die ihr Formular verschlampt hat, zur Rede. Hier wird auch Marianne, die gerade im Begriff ist, sich arbeitsuchend zu melden, zum ersten Mal auf sie aufmerksam. Später wird sie ihr noch einmal während der Arbeit begegnen und Christèle, die allein drei Söhne großzieht, insgeheim zur Protagonistin ihres Buches küren.

Doch dann freundet Marianne sich wirklich mit ihr und einigen anderen Frauen an, die keine Ahnung davon haben, dass sie ein Doppelleben führt. Immer häufiger meldet sich Mariannes schlechtes Gewissen – wenngleich die Autorin es dennoch wiederum oft kaum abwarten kann, sich heimlich Notizen für ihr Buch zu machen.

Der Graben zwischen den Frauen ist letztlich unüberbrückbar: Marianne tut sich die elende Plackerei schließlich aus freien Stücken an – und wird später dafür als Autorin reich entlohnt und gefeiert werden. Ihre Mitstreiter*innen dagegen haben kaum eine Chance, jemals aus diesem Leben an der Armutsgrenze auszusteigen – einem Dasein, in dem man gezwungen ist, sich gnadenlos demütigen und ausbeuten zu lassen.

Der Kameramann Patrick Blossier beweist in einigen großartigen, dokumentarfilmartigen Aufnahmen, dass es den Frauen, die im unbarmherzigen Akkord ohne jegliche Arbeitsrechte schuften, noch vergleichsweise gut geht. Sie besitzen wenigstens die französische Staatsbürgerschaft – die Lebensbedingungen für Migrant*innen, die im Film frühmorgens am Kai von der Polizei aufgescheucht werden, sind noch weitaus unmenschlicher.

So ergreift das schlechte Gewissen nicht nur Marianne, sondern auch die Zuschauer*innen. Carrère arbeitet schön heraus, dass sich die Grenze zwischen den Armen und den Privilegierten eben nicht mit einem investigativen Film oder Buch aufheben lässt.

Diese Erfahrung hat auch Wallraff in den 80er Jahren machen müssen, doch immerhin hat sein Bestseller über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die Fremdenfeindlichkeit, denen die türkischen Gastarbeiter*innen ausgesetzt waren, mancherorts zu einer Verbesserung der Bedingungen und mehr Integration durch die deutschen Kolleg*innen geführt. Ein ähnliches Potenzial hat durchaus auch Carrères schmerzlich berührender Film.

»Wie im echten Leben«: Frankreich 2022. Regie: Emmanuel Carrère; Buch: Hélène Devynck, Emmanuel Carrère. Mit: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine, Evelyn Porée. 106 Minuten. Start: 30. Juni.

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