Mann des historischen Kompromisses

Chiara Valentini hat eine beeindruckende Biografie über Enrico Berlinguer verfasst

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 8 Min.
Enrico Berlinguer vor einem Gemälde von Renato Guttuso.
Enrico Berlinguer vor einem Gemälde von Renato Guttuso.

Am 25. Mai dieses Jahres wäre Enrico Berlinguer 100 Jahre geworden, eine Schlüsselfigur der Geschichte Italiens, der nicht nur mit einer Biografie gedacht werden sollte. Er gehört nicht nur in die kommunistische Ahnengalerie mit Antonio Gramsci, Palmiro Togliatti und Luigi Longo, sondern wegen seines Engagements für die sogenannte Dritte Welt, für Abrüstung, Frieden und den Schutz der Natur auch in die Reihe von Politikern wie Willy Brandt, Olaf Palme und Bruno Kreisky.

Chiara Valentini, die Berlinguer noch 1983 interviewen konnte, hat ein einfühlsames Porträt über ihn verfasst. Es war nicht ihre Absicht, eine wissenschaftliche Biografie zu liefern. Das 2014 erstmalig in Italien verlegte und zweimal aktualisierte Buch liegt nun auf Deutsch vor. Dem Bonner Verlag ist dafür ausdrücklich zu danken! Denn in der unleugbaren Parteikrise der Linken vermittelt das Leben dieses klugen und streitbaren Italieners in vielfältiger Hinsicht unschätzbare Erfahrungen und Lehren, die helfen könnten, sich erneuert zu formieren, weitere Irrwege, Illusionen und Fehler zu vermeiden. Und dies sowohl deshalb, weil dieser Führer der einst größten Kommunistischen Partei außerhalb des sowjetischen Machtbereichs sich ebenfalls mit gravierend wandelnden politisch-gesellschaftlichen Kampfbedingungen konfrontiert sah. Er war der bedeutendste Vordenker des Eurokommunismus, der – trotz seines damaligen Scheiterns, was maßgeblich am Versagen der Kreml-Führung und ihrer Getreuen lag – Denkansätze für die Neufindung einer sozialistischen Alternative beisteuern konnte.

Zudem dürfte es für Leser mit DDR- oder SED-Biografie eine bedrückende Erkenntnis sein, dass der nur zehn Jahre jüngere Berlinguer geradezu wie ein Gegenentwurf zu Erich Honecker erscheint. Beide teilen sie das Schicksal, dass die von ihnen geführten Millionen-Parteien zerbrachen. Das schmähliche Ende ihrer Organisationen, welches der Generalsekretär der KPI – auf einer Wahlkampfrede in Padua am 7. April 1984 am Pult zusammenbrechend und vier Tage darauf verstorben – jedoch nicht mehr direkt erleben musste, ist (wenn auch hinsichtlich ihrer Ursachen nur sehr bedingt) vergleichbar.

Die Trauerfeierlichkeiten für Berlinguer, über die das Zentralorgan der SED in drei Ausgaben berichtete, wurden zu den eindrucksvollsten in der italienischen Geschichte. Allein in Rom nahmen mehr als 1,5 Millionen Menschen teil; für vier Tage schien das politische Leben im ganzen Land stillzustehen. Bei den folgenden Wahlen stimmten 11 715 000 Wähler für die KPI, die mit 33,32 Prozent erstmalig die Christdemokraten (DC) (32,96 Prozent) überflügelte. Die meisten Direktstimmen gegenüber allen anderen Bewerbern im Wahlbezirk Rom – 719 000 – hatte damals posthum der verstorbene Kandidat der Kommunisten, Berlinguer, erzielt.

Dank ihrer Methode, neben wenigen Sätzen aus Reden und Dokumenten primär aus vielfältigen Interviews und Erinnerungen von Kampfgefährten, Familienmitgliedern, aber auch politischen Gegnern, journalistischen Zeugnissen sowie persönlichen, oft intimen Äußerungen zu zitieren, gelingt es der Biografin, ein pralles Lebensbild zu zeichnen, das den Titel »Der eigenartige Genosse« rechtfertigt. Berlinguer ist damit ziemlich treffend charakterisiert.

Der aus einer sardischen großbürgerlichen Familie – Vater Rechtsanwalt, Mutter aus einer Wissenschaftlerdynastie – stammende Berlinguer wächst bildungshungrig und von katholischer Ethik geprägt im faschistischen Italien auf. Unmittelbar nach der Flucht der deutschen Truppen am 18. September 1943 aus Sardinien tritt der junge Mann in die KPI ein. Da hat er einige wilde Aktionen gegen die reaktionäre Bürokratie und eine Anklage wegen Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes sowie 100 Tage Gefängnis hinter sich. Im Bericht des Generalinspekteurs der Polizei wurde er beschuldigt, eine »überzeugter Kommunist, ein Gelehrter der leninistischen Theorie, ein Anstifter und Gründer der Kommunistischen Partei in Sassari« zu sein.

Freigekämpft fährt er nach Salerne, wo ihn sein Vater dem KPI-Chef Palmiro Togliatti vorstellt, den er aus gemeinsamer Gymnasialzeit kennt. Herkunft, Erscheinung und Bildungsweg nehmen Togliatti sofort für ihn ein und lassen ihn für die Organisation einer neuen, nicht nur rein kommunistischen Jugendbewegung geeignet erscheinen. Der junge Berlinguer ist noch – wie die älteren Genossen und Partisanen – fest von der bevorstehenden Errichtung einer Diktatur des Proletariats überzeugt, die für ihn aber tolerant, demokratisch und den ethischen Werten von Gerechtigkeit verpflichtet sein müsste und für die er die italienische Jugend gewinnen möchte.

Mit der »Wende von Salerno« im März 1944 – dem Eintritt in die provisorische bürgerliche Regierung und der Beteiligung am Verfassungsreferendum, durch das Italien zur Republik wird – folgt eine kurze Regierungsteilnahme der Kommunisten als drittstärkste Fraktion 1945 bis 1947. Die KPI wandelt sich von einer Partei im Untergrund, der Resistenza gegen die Mussolini- und Hitler-Faschisten, zu einer die Politik mitbestimmenden Partei. Das Ausscheiden der Kommunisten aus der Regierung erfolgt auf Druck der USA, die den Ministerpräsidenten der italienischen Christdemokraten, Alcide De Gasperi, wissen lassen, sie würden keine Regierung mit kommunistischer Beteiligung auf westlicher Seite des Eisernen Vorhangs dulden und jede Wirtschaftshilfe einstellen, wenn diesem Willen nicht entsprochen werde.

Der Kalte Krieg zwingt die KPI in die Opposition, sie wächst zu einer Massenpartei mit rund 1,5 Millionen Mitgliedern heran. Der XX. Parteitag der KPdSU 1956 mit den Enthüllungen über Stalins Verbrechen wirkt wie ein Stich ins Herz auch der KPI. Drei Strömungen ringen um Dominanz in der Partei: Die einen wollen sich nicht vom als »revolutionär« begriffenen Stalinismus lösen; die Mitte um Berlinguer versucht nicht nur theoretisch die Quadratur des Kreises, Kommunismus und Demokratie zu vereinen; der »rechte« Flügel kann Erfolge in den von Kommunisten regierten Regionen Emilia Romagna, Umbrien und Latium für sich verbuchen.

Ein Sieg des Kommunismus auf parlamentarischem Weg scheint möglich. Berlinguer fühlt sich ganz in Übereinstimmung mit Togliatti, der mit seinem Memorandum von Jalta ihn bestärkt, sich immer deutlicher vom sowjetischen Grundmodell abzuwenden und auf die verschiedenen Wege zum Sozialismus zu bestehen. Der Tod Togliattis 1964 und der wenig später erfolgende Sturz des KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chruschtschow sowie die Nachfolge des bereits älteren »Parisanen« Luigi Longo an der Spitze der KPI vertiefen das strategisch-taktische und theoretische Auseinanderdriften der Partei.

Als Berlinguer zur Unterstützung Longos auf dem XI. Parteitag 1969 zum Stellvertretenden Generalsekretär gewählt wird, sieht er seine wichtigste Aufgabe darin, die Gefahr einer Spaltung zu verhindern. Dies gelingt oberflächlich durch inhaltliche Kompromisse und keine personellen Rochaden, was allerdings Konflikte nicht wirklich klärt. Die immer mehr von Intellektuellen und Funktionären der zweiten Generation dominierten Führungen der Partei entfremden größere Teile der jüngeren Generation, unter denen die KP Chinas an Einfluss gewinnt.

Mit der Politik des Historischen Kompromisses, einem volksfrontähnlichen Bündnis, soll die KPI wieder zur mitregierenden Partei befähigt werden. Damit verbunden sind die Abkehr von einer Vasallentreue gegenüber der KPdSU und die Absage an einen dogmatischen marxistisch-leninistischen Gesellschafts- und Parteibegriff. Verborgen bleibt den führenden Kommunisten, dass bei ihren – oft geheimen – Treffen mit christdemokratischen Politkern stets die CIA mithörte.

Die zunehmend deutlicher werdende Krise im sowjetischen Machtbereich, fatale Entscheidungen wie der Einmarsch in die ČSSR 1968 und zehn Jahre später in Afghanistan bestärken Berlinguer in seiner Politik. Mit dem Eurokommunismus will er der kommunistischen Bewegung eine neue theoretische und breite demokratische Basis verschaffen, erreicht aber nicht mehr als die Akzeptanz der Partei im parlamentarischen System (mit Nicht-Regierungsposten wie der Präsidentschaft in der Abgeordnetenkammer, Senatsmitgliedschaften und dem Vorsitz in sieben Parlamentsausschüssen).

Das letztliche Eingeständnis des Scheiterns des Historischen Kompromisses sowie der Idee des Eurokommunismus ehrt Berlinguer. Inwieweit man es als hinreichende Entschuldigung für das Scheitern seiner Politik akzeptieren kann oder ihm vorwerfen will, keinen Willen zur Macht wie Wladimir I. Lenin in Russland oder Fidel Castro in Kuba gezeigt zu haben, auch dass sein Imperialismusbild naiv war, bleibt dem Leser überlassen. Fakt ist: 1975 erzielt die Partei mit 12,5 Millionen Stimmen und 34,4 Prozent ihren größten Wahlsieg. Bundeskanzler Helmut Schmidt enthüllte, dass auf der folgenden Weltwirtschaftskonferenz US-Präsident Henry Ford und Henry Kissinger den italienischen Regierungschef Aldo Moro nochmals vergatterten: »Niemals Kommunisten in die Regierung eines Nato-Landes!« Der Parteichef der italienischen Christdemokraten bezahlte sein Selbstbewusstsein mit dem Tod.

Für Castro empfand Berlinguer große Sympathie – seit seinem erstem Händedruck mit ihm während seiner Kuba-Reise 1981. Auch der Gastgeber war von diesem Italiener begeistert, was ihn nicht daran hinderte, seine guten Beziehungen zur Sowjetunion zu betonen. Zum Modell der italienischen Kommunisten meinte er: »Jeder wird gemäß seiner Bedingungen entscheiden, welchen Weg er gehen wird. Uns zum Beispiel wird nicht im Traum die Notwendigkeit eines Parteienpluralismus einfallen.«

Zu seinem letzten Kampf wird Berlinguer ausgerechnet gegen den Vorsitzenden der Sozialistischen Partei und ersten sozialistischen Ministerpräsidenten Benito Craxi gezwungen, dessen reaktionäre antikommunistische Politik ihm die letzten Illusionen eines breiten demokratischen Bündnisses nimmt. Ob er, wäre ihm ein längeres Leben beschieden gewesen, sich wieder auf die Seite der am Marxismus und Klassenkampf festhaltenden radikalen linken Minderheit in der Partei geschlagen hätte und für eine Trennung von den »Regierungssozialisten« votiert, ist eine offene Frage. Unabhängig davon sollte dieser »eigenartige Genosse«, den alle, die ihn kannten, ob seiner Intellektualität, menschlichen Offenheit und Bescheidenheit schätzten, in der Erinnerung der Linken bleiben.

Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse. Enrico Berlinguer – Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa, J. H. W.-Dietz-Verlag, 480 S., geb., 32 €.

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