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Und jetzt die Politik
Die Forderungen des Berliner Klimabürger*innenrats sind radikaler als vermutet
Es ist das Ergebnis von acht Sitzungen in zwei Monaten, teilweise bis in die Nacht, von Menschen, die bereit waren, neben ihren Jobs mit anderen Berliner*innen über die klimapolitische Zukunft in der Hauptstadt zu streiten. »Sie sind einen neuen Weg gegangen«, sagt Berlins Umweltsenatorin Bettina Jarasch (Grüne), als ihr der Klimabürger*innenrat am Donnerstagabend im Abgeordnetenhaus seinen Katalog mit 47 Handlungsempfehlungen für die Landespolitik übergibt. Erstellt haben ihn genau 100 zufällig aus der Berliner Gesamtbevölkerung ausgewählte Personen im Alter von 17 bis 80 Jahren aus allen Bezirken der Hauptstadt, mit unterschiedlichem Bildungshintergrund und zu einem Viertel mit Migrationserfahrung.
Von dem Ergebnis zeigt sich Jarasch beeindruckt. Trotz vieler Gegensätze sei es den Teilnehmer*innen in kürzester Zeit gelungen, komplexe Themen zu erfassen und sich auf Lösungen zu einigen. »Ich habe gehofft, dass bei Ihrer Arbeit am Ende etwas herauskommt, was uns die Arbeit erleichtern wird«, sagt Jarasch. »Erleichtern in dem Sinne, dass Sie uns antreiben.« Jetzt sei es für die Politik an der Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
Tatsächlich geben die eingereichten Forderungen der Grünen-Politikerin weiteren Rückenwind in künftigen Debatten. Gefallen dürfte etwa, neben dem Wunsch nach weniger Autoverkehr in der Innenstadt und der eher knapp ausgefallenen Positionierung gegen einen Ausbau der umstrittenen A100, vor allem die Zweidrittelmehrheit für eine mögliche City-Maut. Letztere steht bereits seit Jahren auf der grünen Agenda, stößt jedoch auf Widerstände bei Linkspartei und SPD.
Generell, findet der Klimabürger*innenrat, sollten auf den Berliner Straßen Busse und Fahrräder Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr bekommen. Er plädiert für den Ausbau der Ladestrukturen für Elektroautos, die sich nicht als Privileg wohlhabender Menschen etablieren sollen, spricht sich für die Entsiegelung von Bodenflächen, eine Gründächerpflicht und ein Leerstandsregister aus. Der Schutz vor Mieterhöhungen hat es ebenso in den Katalog geschafft wie die Unterstützung kleiner Vermieter*innen im Gegensatz zu großen Immobilienunternehmen. Mit nur 39 Prozent gescheitert ist hingegen die Idee, Wohneigentum für alle Menschen zu fördern. Nicht alle Punkte lassen sich allein auf lokalpolitischer Ebene stemmen. Die Ziele aber geben, trotz der unterschiedlichen Zusammensetzung des Rates, eine eindeutige Richtung vor.
»Ich war überrascht, dass ich zu 90 Prozent von Klimaschützerinnen und -schützern umgeben bin«, sagt Beatrice Al-Mardini-Krukow, Mitglied des Klimabürger*innenrats aus Reinickendorf. »Der Mensch braucht die Natur, und es darf nicht daran scheitern, dass es zu teuer ist.« Die Meetings – fast alle wurden digital abgehalten – seien gut organisiert gewesen, auch wenn sie am Anfang nicht gewusst habe, wie anstrengend es letztlich werden sollte. Al-Mardini-Krukow sagt trotzdem: »Ich bin froh, dass ich mitgemacht habe.« Gerhard Guhle spricht wiederum von der Sorge um seine Enkelkinder, die ihn für den Klimabürger*innenrat motiviert habe. »Vor 32 Jahren bin ich Opa geworden«, sagt er. »Jetzt bin ich schon zweimal Uropa. Und? Hat sich etwas verbessert?«
Die Initiatoren des Projekts, die mit den Initiativen von Klimaneustart Berlin und Mehr Demokratie nicht aus dem parteipolitischen Spektrum stammen, zeigen sich zufrieden mit dem nun vorgelegten Ergebnis. »Uns ist es wichtig, dass auf dem Weg zum 1,5-Grad-Ziel die Stadtgesellschaft mitgenommen wird«, sagt Felix Nasser von Klimaneustart Berlin. Dass sich Menschen aus unterschiedlichen Hintergründen auf klare Leitsätze haben einigen können, »sollte den Politiker*innen ein Vorbild sein«. Cornelia Auer, die Vertrauensperson der Initiative, erkennt eine große Bereitschaft für weitreichende Veränderungen. Die Wissenschaftlerin am Potsdam-Institut für Klimafolgen fordert: »Eine Ablehnung einzelner Maßnahmen sollte öffentlich begründet werden.«
Kaum ein Ton der Unzufriedenheit ist zugleich aus den einzelnen Fraktionen im Abgeordnetenhaus zu hören. »Jetzt habe ich eine Zahl, und damit kann ich viel besser arbeiten«, sagt Nina Lerch, umweltpolitische Sprecherin der SPD, die sich nun vor der »Denkaufgabe« sieht, wie sich der Klimaschutz sozial gerecht gestalten lasse. Auch Linksfraktionschefin Anne Helm betont, die Forderungen des Rates ernst nehmen zu wollen: »Ich kann Ihnen versprechen, dass Ihr Wort Gewicht haben wird, wenn wir miteinander über das Klimaschutzprogramm reden.« Die meisten der Empfehlungen seien »sehr klug und extrem hilfreich«. Felix Reifschneider, umweltpolitischer Sprecher der FDP, sagt: »Jede Äußerung eines qualifizierten Gremiums ist ein Anlass, die eigenen Positionen zu hinterfragen.« Interessant sei jedoch auch, was es nicht in den Katalog geschafft habe und wo nach wie vor kontroverse Diskussionen geführt würden.
Für die Schaffung des Klimabürger*innenrats hatten im vergangenen Jahr lediglich die Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und Linkspartei gestimmt. Zweifel an der Sinnhaftigkeit wurden nicht zuletzt aus der CDU-Fraktion laut. Deren Sprecher für Umwelt und bürgerschaftliches Engagement, Danny Freymark, hatte das Projekt indes befürwortet. »Als das mit dem Rat geklappt hat, habe ich mich sehr gefreut«, sagt er zu »nd«. Gerade beim Klimaschutz handele es sich um ein gesamtgesellschaftliches Thema, das auch mit Verzicht zusammenhänge. »Diesen Verzicht bekomme ich nur argumentiert, wenn sich die Leute auch identifizieren mit der Thematik.« Hier könne sich ein Bürger*innenrat als nützliches Instrument erweisen.
Doch, so Freymark: »Ich habe dann feststellen müssen, dass einige Zweifel tatsächlich zutreffen.« Bei einer Zuschalte der Abgeordneten etwa seien maximal 40 der 100 Bürger*innen dabei gewesen. Der Ablauf dieser Veranstaltung habe ihn eher enttäuscht. »Eigentlich hatte ich das so verstanden, dass wir wie Experten hätten fungieren sollen, die Leute uns also Fragen stellen können«, sagt Freymark. Stattdessen seien die Abgeordneten nacheinander nach den Parteipositionen befragt worden. »Das war dann fast so ein bisschen wie Wahlkampf.« Zudem ist Freymark der Meinung, dass zu wenige der Veranstaltungen in Präsenz stattgefunden haben. Gremien wie der Klimabürger*innenrat lebten auch von der Begegnung und dem Miteinandersprechen.
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