- Kultur
- Ostdeutschland
Der ewige Trampsommer der Anarchie
Typisch Sommer (3): Einmal durch den Osten, 1983
Halbanarchistisches Verreisen gegen das Nato-Wettrüsten und den DDR-Sozialismus standen im Sommer 1983 ganz oben auf meiner Agenda. Einmal von Weimar bis nach Nessebar trampen! Im Dezember sollten die ersten neuen Pershings in Westdeutschland aufgestellt werden und dann drohte mein Einzug zur NVA im sogenannten Orwell-Jahr. Deshalb hieß die Sommerdevise 1983: Leben!
Meine geplante Reisebegleiterin verliebte sich zwei Tage vor Abmarsch in den späteren Stasispitzel der übersichtlichen Alternativszene in Weimar. So hob ich allein den Tramperdaumen am Ortsausgangsschild Weimar. Trampen war damals kein Problem. Schnell war ich in Dresden, wo mich ein Ungar in seinem schicken roten Lada in Richtung Prag mitnahm. Wir unterhielten uns in den Sprachen der Welt, nur Russisch mochte er nicht, weil beim Ungarnaufstand 1956 sein Onkel den Heldentod gestorben war. Er wollte mich bis kurz vor Budapest mitnehmen, Übernachtung irgendwo im Zelt in der ČSSR. Ein Traum! In der Nacht wurde es brenzlig, einmal »nein« zu sagen, reichte nicht: Wutanfall. Ich sprang aus dem Zelt und brüllte Zeter und Mordio. Und am nächsten Morgen stieg ich in einen LKW nach Budapest.
Wer nie eine Nacht im Schlafsack auf der Budapester Margareteninsel verbrachte, hat nicht gelebt. Hunderte DDR-Hippies wurden am Morgen von unromantischen Polizisten wachgeknüppelt, ich lag etwas abseits und schaffte den Absprung. Danach: dösen im PKW bis zur rumänischen Grenze.
Grenzübergänge im Osten waren fiesbrüderliche Spießrutenläufe. Keiner mochte den Nachbarn und musste es jedem zeigen. Also zu Fuß rüber nach Rumänien. Nie traf ich herzlichere Menschen in schlimmerer Not, in den Kaufhallen gab es nur Zwiebeln, Brot und Wasser. Nachts lud mich eine Familie zu sich nach Hause ein. Ich teilte mit meinen Gastgebern eine Packung »Nimm zwei« und sie erklärten mir, warum Ceaușescu ein Schweinehund sei. Vor den Tankstellen gab es elend lange Schlangen zu besichtigen, die inoffizielle Währung waren Zigaretten der Marke Muratti. Ein ganzes Volk trampte zwangsweise. Ich las Dostojewskis »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«, alles passte prächtig zusammen.
In den Karpaten ließ mich ein Bauer in seiner Scheune übernachten. Nachts heulten die Wölfe mich in den Schlaf, am Morgen gab es frische Ziegenmilch und Weißbrot. Wir unterhielten uns mit Händen und Füßen. Ich flog wie die Schwalbe über den Eriesee Richtung Bulgarien.
Wieder hatte ich Glück, weil mich der Leiter des größten bulgarischen Pionierferienlagers am Schwarzen Meer einsammelte. Er fraß einen Narren an mir, brachte mich in einer schicken Platte am Meer unter, versorgte mich mit Essensmarken und zeigte mir seine Schildkrötensammlung. Er mochte Deutsche, weil sie seiner Ansicht nach so schön ordentlich waren: »Schau dir Bulgarien an, ein Haufen Dreck! Aber wir verstehen zu feiern!«
Beim Sonnenbaden am nächsten Tag vergaß ich Mutters Ratschläge. Drei Tage Schüttelfrost, vom Körper lösten sich ganze Hautfelder. Ich hatte von Meer und Sonne genug. Zurück mit dem Zug über Sofia, Bukarest und Budapest. Wieder auf der Margareteninsel angelangt, wurde ich leichtsinnig. »Knüppel, Knüppel, bumm-bumm« hieß das nicht so lustige Lied am nächsten Morgen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.