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Seitenweise Sand
Typisch Sommer (10): Guter Literatur nähert man sich am besten durch Strandlektüre
Kann es wirklich sein, dass die Lektüre von Büchern am Strand anders ist als das Lesen im Bett, in der U-Bahn, auf dem Sofa oder in einer Bibliothek und dass sich das am Strand Gelesene auf eine vielleicht sogar intensivere Weise im Bewusstsein sedimentiert? Steile These, oder? Natürlich spielt es immer eine Rolle, wo man liest, welche Geräusche im Hintergrund und welche visuellen Außenreize bewusst oder unbewusst zum Teil eines Leseerlebnisses werden.
Ich habe schon Tausende Seiten irgendwelcher belletristischen Prosa und Theorie-Lektüre zum Rattern der U-Bahn heruntergerissen, den Atem des Nachbarn direkt in meinem Gesicht, während ich mir etwa Enno Stahls Anti-Gentrifizierungs-Prosa Marke Prenzlauer Berg zu Gemüte geführt habe. Kinderschreien vom Spielplatz begleitete den einen oder anderen Band genialischer popkultureller Selbstbeweihräucherungsprosa von Jonathan Lethem, und diverse Gedankengänge von Judith Butler oder David Harvey verschmolzen mit dem aufgebrachten Telefonat, das jemand neben mir sitzend im Zug führte. Aber diese Eindrücke, egal, ob sie das Leseerlebnis störten oder womöglich sogar momentweise – warum auch immer – intensivierten, verblassten irgendwann.
Ganz anders aber ist das (bei mir zumindest) mit den Büchern, die ich am Strand gelesen habe. Der schwarze Sand an einem Beach auf der Kanareninsel Gomera ist immer das Erste, was mir einfällt, wenn ich den Namen Don DeLillo höre, weil ich seinen legendären 1000-Seiten-Wälzer »Unterwelt« dort gelesen habe und die Szene am Ende des Buches in einer russischen Atomwaffenverschrottungsanlage gar nicht vom Salzwasser-Geruch und dem irrsinnig hellen Licht dieses Strandes trennen kann.
Ähnlich geht es mir mit Stanisław Lems letztem, mitunter düsterem Roman »Fiasko«, dessen Szenen in meinem Gedächtnis immer mit einem hellgelben Strand gekoppelt sind, der eigentlich so gar nicht zum Titanmond passt, auf dem ein Teil dieses dystopischen Alterswerkes spielt. Und bei dem Roman »I love Dick« von Chris Kraus, in dem so schön erklärt wird, dass postmarxistische Theoriegrößen meist auch nur olle Macker sind, die im Celebrity-verliebten Wissenschaftsbetrieb Karriere auf Kosten der sie umgebenden und ihre Arbeit aktiv mitgestaltenden, aber namentlich nie aufgeführten Frauen machen, muss ich immer an den Atlantik denken, wie er gewaltig und müde unter einem grauen und doch unglaublich hellen Himmel mit seinen Wellen vor sich hin schwappt.
Aus manchen Büchern rieselten bei mir zu Hause noch Jahre später Sandkörner heraus, wenn ich etwa mal Haruki Murakamis »Mister Aufziehvogel« aus dem Regal holte und aufschlug, um ein paar Sätze dieser so gefühlvoll vor sich hin mäandernden und stellenweise unglaublich grausamen Story zu lesen. Und bei der Re-Lektüre glaubte ich einen kurzen Augenblick wieder an einem andalusischen Strand zu sitzen.
Eine Zeit lang las ich in jedem Urlaub (soweit ich es schaffte, dem meteorologisch so launischen mitteleuropäischen Sommer zu entfliehen) einen Philip-K.-Dick-Roman am Strand, sodass ich das eine oder andere ins Surrealistische abdriftende Parallelwelt-Opus wie beispielsweise »Das Orakel vom Berge« mit Windböen am Meer verbinde und die Buchcover von der Sonne ausgebleicht und vom Sand abgeschrubbt sind. Denn das Lesen am Strand materialisiert sich auch in der heimischen Bibliothek.
Vielleicht erklären ja auch diese Strandlektüren meine Vorlieben für die eine oder andere Autorin oder auch für ein bestimmtes Genre. Ganz einfach, weil mich das am Strand gelesene Buch in einen seltsamen, in einen fast magischen Sommerbann schlägt und dabei etwas in mir auslöst wie der Lindenblütentee bei Proust – nur deutlich farbenfroher und mit reichlich Sommer zwischen den Seiten.
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