Ressentiment und ästhetische Regression

Mit dem Konzept der »Sozialen Plastik« und seinem Antiamerikanismus war Joseph Beuys ein prominenter Vorläufer der aktuellen Documenta-Ästhetik

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit über drei Wochen diskutiert man nun über das Wandbild des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi, das auf der Kasseler Ausstellungsreihe Documenta kurz nach seiner Präsentation wieder abgehängt werden musste. Es enthält Figuren, die eindeutig antisemitischen Stereotypen entsprechen. Dabei soll es die Schlechtigkeit der Welt und den Anteil raffgieriger Juden daran zeigen. Das Team der Documenta-Kuratierenden bat um Entschuldigung, wenn der Anblick Gefühle verletzt haben könnte. So sei das ja gar nicht gemeint gewesen.

»Wir entschuldigen uns für den Schmerz und die Angst, die die antisemitischen Elemente in den Figuren und Zeichnungen bei all denjenigen hervorgerufen haben, die sie direkt vor Ort oder in den Reproduktionen der Medienberichterstattung gesehen haben«, sagte ein Mitglied des Kuratorenkollektivs Ruangrupa kürzlich im Kulturausschuss des Bundestages. Das Statement machte alles noch schlimmer. Wenn das Bild im lokalen indonesischen Kontext nicht als antisemitisch gelesen worden wäre, läge eine Leseschwäche vor, die behoben werden müsste. Aber die Begründung war eine Ausrede. Wenn ein antisemitisches Bildprogramm Anklang findet, dann, weil es als das gelesen wird, was es ist – dort, wo es entstand, und überall auf der Welt.

Das »Bündnis gegen Antisemitismus Kassel« hatte den öffentlich propagierten Judenhass ein halbes Jahr vor Ausstellungseröffnung kommen sehen. Doch die Veranstaltungsleitung der Documenta schaute weg und akzeptierte den kulturalistischen Israel-Boykott. Folie der sogenannten Israel-Kritik ist der Antisemitismus. Er äußert sich als Ressentiment gegen rationale Tauschverhältnisse im Kapitalismus. Diese haben einen historischen Gewaltkern, nämlich die Trennung der Produzierenden von ihren Produktionsmitteln. Doch der wird mit dem Blick des Ressentiments nicht aufgedeckt. Im Gegenteil: Dort artikuliert sich seinerseits irrationale Gewalt. Juden werden als Verkörperungen bürgerlicher Tauschverhältnisse gelesen; als Zielscheibe für Aversionen gegen deren zivilisatorische Errungenschaften, ohne die es, historisch betrachtet, keine liberale Demokratie gäbe.

Antisemitische Zuschreibungen sind in der linken Kapitalismuskritik nichts Neues; sie finden sich bereits im Frühsozialismus, zum Beispiel beim Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier (1772–1837). Er gilt als versponnen-sympathischer Utopist des Sozialismus. In seinem Entwurf einer befreiten Gesellschaft leben Menschen in produktiven Gruppen zusammen: Landarbeiter*innen, Industriearbeiter*innen und Künstler*innen. Zuvor müssen allerdings den Juden die Bürgerrechte entzogen werden. Denn »die Grundbesitzer, die Landwirte, die Handwerker, die Unternehmer, ja die Regierung selbst« müssten sich von der »parasitischen und unproduktiven Gruppe …, den Händlern«, befreien, die alles »beherrscht«. Die unproduktiven »Agenten … leiten die ganze Zirkulation« und greifen »in alles hemmend« ein, klagte Fourier in seiner »Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen«.

Affekthafte Kapitalismuskritik aus antisemitischem Ressentiment läuft ins Leere. Und die entsprechende aktivistische Bildsprache ist künstlerisch unzureichend. Das ist am Documenta-Riesenbild nicht zu übersehen. Die Figuren sind grafisch geschickt, aber ästhetisch grob dargestellt. Eben im Stil der Nazi-Propaganda.

Kann man im eigenen kulturellen Kontext solcher Arbeiten andere ästhetische Erfahrungen machen als im Horizont der europäischen Ästhetik? Haben deren Bewertungskriterien ihr Verfallsdatum überschritten? Dann wäre die Forderung gerechtfertigt, das Konzept der ästhetischen Autonomie zu den Akten zu legen und Kunst nicht individuell, sondern in kollektiver Praxis zu produzieren.

Die Autonomie der modernen Kunst hängt mit der Autonomie der bürgerlichen Ökonomie zusammen, aber sie unterscheidet sich auch davon. Statt Nutzen und Verwertung will sie Freiheit von Zwecken und Nutzen. Es geht um Erfahrungen, die sich nicht in Geldwert übersetzen lassen; um die Suche nach dem Unwiederholbaren, Einzigartigen und Unaustauschbaren, nach dem Zusammenstimmen von Idee, Ausdruck und Formgestalt. Im Äquivalententausch wird qualitativ Verschiedenes gleichgemacht, in der Kunst hingegen zählen nicht Quantitäten, sondern Qualitäten.

Dem wohnt eine Paradoxie inne. In der bürgerlichen Gesellschaft sind Menschen autonome Subjekte, weil sie Wirtschaftssubjekte sind. Keine Freiheit ohne Zwang zur Selbsterhaltung auf dem Markt. Künstler*innen sind nicht mehr zur Gänze vom Wohlwollen weltlicher und geistlicher Machthaber abhängig. Ihre Arbeit muss in Warenform Erfolg haben, bei Kennern und Laien, Experten und Ignoranten. Ästhetische Erfahrung ist in diesem Kontext eine Vergegenwärtigung von Bedürfnissen durch Formgebung. Damit weist sie über das Tauschverhältnis hinaus. Kunstwerke sind nicht Mittel zum Zweck; ihre Form ist als solche relevant. So wird ästhetische Erfahrung zum Raum der Differenz zur bestehenden sozialen Wirklichkeit. Das unterscheidet sie von sinnlich-gemütvoller Bestätigung bestehender Verhältnisse und der Bedürfnisse, die sie affirmieren – kurz: vom Kitsch.

Das Konzept der Kunstautonomie steht keineswegs für Unabhängigkeit der ästhetischen Produktion oder Freiheit von äußeren Einflüssen. Autonomie als Selbstbestimmung ist ein Konzept aus der politischen Philosophie der europäischen Aufklärung. In der praktischen Philosophie und in der Sozialpsychologie wird darunter die »Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln gegen Widerstände« (Michael Pauen/Harald Welzer) verstanden.

Goethes Freund Karl Philipp Moritz kritisierte die von der Aufklärung postulierte Einheit von ästhetischer Erfahrung und Lebenspraxis. Kunstwerke sollen Moritz zufolge nicht funktional – nämlich symbolisch oder allegorisch – legitimiert werden. Ein Kunstwerk soll nicht zeichenhaft etwas anderes repräsentieren. Es soll es selbst sein dürfen, nicht Nutzen und Verwertbarkeit unter Beweis stellen müssen. Moritz brachte diesen Gedanken gegen die bürgerlich-instrumentelle Rationalität der Erwerbszwecke in Stellung.

Die Ästhetik des autonomen Kunstwerks hat also eine kritische Basis, die aber ihrerseits durch Kritik freizulegen ist. Ästhetische Erfahrung produziert Raum für die Differenz zur sozialen Wirklichkeit. Zieht diese unmittelbar in die Kunst ein, wird es heikel. Am Beispiel des Theaters von Erwin Piscator lässt sich vergegenwärtigen, wie produktiv es aber sein kann, wenn soziale und künstlerische Praxis vermittelt werden. Piscator wollte im Berlin der Weimarer Republik kein »Theater für das Proletariat«, machen, »sondern … Proletarisches Theater. Wir verbannten das Wort ›Kunst‹ radikal aus unserem Programm«, schrieb er, »unsere ›Stücke‹ waren Aufrufe, mit denen wir in das aktuelle Geschehen eingreifen und ›Politik treiben‹ wollten«. Fortschrittliche Kunst sollte ein Mittel revolutionärer Politik sein.

Die Risiken der Instrumentalisierung künstlerischer Formen nahm Piscator in Kauf. Er entwickelte neue Gestaltungsmittel für die alte Kunstform. Er ließ Überflüssiges weg (Dekoration, aufwendige herkömmliche Bühnenbilder) und integrierte, zeitweilig gemeinsam mit John Heartfield als Bühnenbildner, außertheatralische formale Mittel (Laiendarsteller*innen, Multimedia).

Piscator verstand sein Theater als Propaganda; aber unter Propaganda verstand er Werbung durch Aufklärung für das historische Interesse der Menschheit an solidarischer Selbstbestimmung. Etliche Gestaltungsmittel, die im Rahmen dieses Konzepts entwickelt wurden, sind in die visuelle und konzeptionelle Sprache des Theaters eingegangen, auch wenn das politische Ziel nicht erreicht wurde. Die ästhetischen Mittel emanzipierten sich vom politischen Zweck – sie erweiterten das theatralische Spektrum.

Was auch heute wieder zur Debatte steht, ist die Qualität aktivistischer Kunstwerke und -praxen. Das Taring-Padi-Kollektiv wird gerühmt, weil es mit »Straßenprotest, Holzschnitt-Workshops, Kunstkarnevals und Ausstellungen an ungewöhnlichen Orten« Kunst macht. Dierk Saathoff hat das in der »Jungle World« sarkastisch kommentiert: »So entgrenzt war nicht mal der Kunstbegriff von Joseph Beuys.« Stimmt – aber der war auch schon ziemlich ausgeleiert.

Wenn alle Menschen Künstler*innen sind, ist dann nicht auch alles, was sie halt so machen, Kunst? Weil Kunst das ist, was Künstler*innen machen und tun? Nein. Das Konzept der »Sozialen Plastik«, nach dem Beuys zufolge auch menschliches Denken und Handeln Kunst sein kann, ist ästhetisch problematisch, denn damit lässt sich nicht zwischen gelingender und misslingender Kunstproduktion unterscheiden. Beuys’ Antiamerikanismus war symptomatisch für diffuse linke Positionen in der BRD. Aber immerhin war das, was Beuys künstlerisch produziert hat, von anderer Qualität als das, was er auf gesellschaftstheoretischem Gebiet vor sich hin dilettierte. Seine Installationen waren bisweilen radikal innovativ. Gleichwohl geht es auch auf sein Konto, dass kulturrelativistische Dogmen und identitätspolitische Topoi heute weithin als Kriterien für ästhetische Relevanz anerkannt werden.

Für seine New Yorker Aktion »I like America and America likes me« von 1974 wickelte Beuys sich in Filz ein, stilisierte sich als Hirte und ließ einen Kojoten auf das »Wall Street Journal« pinkeln. Er wollte die USA geißeln, den Hort des Kapitalismus, in dem Ureinwohner schändlich behandelt werden. Die ressentimentgeladene Kapitalismuskritik hielt als Kunstaktion nicht, was sich manche davon versprochen haben mochten. Sie bediente eine Transformation des Antisemitismus: Antiamerikanismus als ästhetischer Sozialismus der dummen Kerls.

Beuys’ Schamanengestus, seine Instrumentalisierung des Kojoten als vermeintlich heiliges Tier der Indigenen – das war »kulturelle Aneignung« der plumpen Sorte. Mit dem Rekurs auf religiös-nationale, kulturelle Identitätsbehauptungen fiel Beuys hinter die Moderne zurück.

Künstlerinnen und Künstler, schreibt der Kulturtheoretiker Bazon Brock über die ästhetische Moderne, »erschaffen einen sinnstiftenden Weltblick nur aus der Logik des individuellen Gestaltens heraus, ohne Unterwerfung unter religiöse Überzeugungen oder Sitten und Gebräuche der Kulturkollektive«. Ist das so? Als normatives Postulat gelesen, besagt Brocks Statement rückblickend: Die falsche »Macht der Kulturkollektive« triumphierte nicht erst auf der diesjährigen Documenta. Große Charismatiker des Westkunstbetriebs waren ihre Propagandisten. Als Totengräber der Kunstautonomie war der legendäre Beuys das ästhetische Individuum im Zeitalter seiner Selbstliquidation.

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