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Erdverbunden und extraterrestrisch

Der französische Philosoph Bruno Latour ist überzeugt: Es gibt kein Zurück mehr, eine neue Kopernikanische Wende steht an

  • Gerhard Klas
  • Lesedauer: 4 Min.

»Was ist mit uns geschehen?«, fragten sich viele Menschen, die im März 2020 wegen des Coronavirus in den Lockdown mussten. Vieles, was selbstverständlich war, wurde infrage gestellt. Schlagartig wurde klar, wie verwundbar die Menschheit ist und von wie vielen Faktoren unser Wohlergehen abhängt. Die Pandemie sei nur ein Vorspiel für das, was uns durch die Klimakrise erwartet, meint Bruno Latour. »Ich fühle mich wie Wäsche in einer Wäschetrommel«, beschreibt er im letzten Kapitel sein Gefühl als denkender Mensch, der sich wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht verschließt. Wäsche, die »bei hoher Temperatur mit wahnsinniger Geschwindigkeit geschleudert wird.« Nach einem Parforceritt durch Philosophie, Geschichte, Politologie, Theologie und Feminismus erklärt der französische Wissenschaftssoziologe, dass alles wieder völlig neu zu erfinden sei: das Recht, die Politik, die Künste, die Architektur, die Städte.

Was passiert, wenn sich alles verändert, wenn alte Gewissheiten keine Gültigkeit mehr haben? Das sind die Ausgangsüberlegungen Latours, inspiriert durch den Lockdown mit seinen Freiheitseinschränkungen, der uns die Abhängigkeiten von Umwelt und Mitmenschen spüren ließ. Für Latour, der sich seit vielen Jahren mit den Folgen der Klimakrise und ihrer gesellschaftlichen Rezeption beschäftigt, ist der Lockdown nur ein Vorspiel. Er ist davon überzeugt, dass das Ende der Welt, wie sie die fortschrittsgläubigen Anhänger der Moderne kennen, eingeläutet sei. Er geht sogar so weit zu behaupten, der Lockdown komme einer überfälligen Befreiung aus der Zwangsjacke ökonomischer Gesetze gleich. Was Latour dabei nicht benennt und seine These als zu optimistisch erscheinen läßt: Die Pandemie und ihre staatlichen Verordnungen haben den ohnehin Reichen in den vergangenen zwei Jahren nie gekanntes Wachstum beschert, überall auf der Welt. Die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus mit seinem Wachstumsfetisch laufen also wie geschmiert, Pandemie hin oder her.

Scharfe Kritik übt Latour an der Ökonomie als Wissenschaft. Während ihre Apologeten sie als Königsdisziplin und Naturgesetz betrachten, ihre quantitative Forschung gerne über die der qualitativen Ansätze anderer Gesellschaftswissenschaften stellen, ist sie für den Wissenschaftssoziologen eine Art Gehirnwäsche. Er verbindet sie mit der Zurichtung des Individuums auf einen radikalen Egoismus. Ein Individuum, das davon überzeugt ist, nichts und niemandem etwas schuldig zu sein, das andere Menschen als »Fremde« und andere Lebensformen als »Ressource« betrachtet. Pandemie und Klimakrise kommen hier einer Grenzerfahrung gleich. Die Grenzen des Individualismus werden in dem Maße deutlich, wie sich die Abhängigkeit von dieser Erde ins Bewusstsein brennt. Eine Entwicklung, die auch große Gefahren birgt und die Latour in seinem Buch nicht verschweigt: Es ist der Rückzug der reaktionären Anti-Modernen in die Vergangenheit. Sie wollen zurück zur Nation, kennen nur ihresgleichen und forcieren letztendlich den Krieg aller gegen alle.

Typisch für Latour, wie auch schon in seinen älteren Schriften, etwa dem »Terrestrischen Manifest«, das zum 200. Geburtstag von Karl Marx erschienen ist, oder »Kampf um Gaia«, wenige Jahre zuvor: Er liebt es, neue Begrifflichkeiten einzuführen. In seinem neuen Buch sind es die Gegensatzpaare der »Erdverbundenen« und der »Extraterrestrischen«. Es ist das »planetarische Bewusstsein«, das er für die bedeutendste Zäsur seit der kopernikanischen Wende hält. Und es sind die »geosozialen Klassen«, die »Ausbesserer« und die »Abzocker«. Letztere sind diejenigen, die aus der Materie den höchstmöglichen Profit ziehen wollen – kurzum, die Erde zerstören, um sich dann woandershin abzusetzen. Es sind die Extraterrestrischen, die auf einen anderen Planeten ausreißen wollen, die Bruno Latour als Feinde des neuen »planetarischen Bewusstseins« definiert: Elon Musk und Jeff Bezos mit ihren Raumschiffen. Wer nicht bereit ist, die Endlichkeit der Ressourcen zu akzeptieren, kann der Katastrophe wohl nicht anders entfliehen als diese beiden Multimilliardäre. Für Latour geht es jedoch darum, sich auf andere Weise am selben Platz zu verorten, darum, die Erde als zusammenhängendes Geflecht zu begreifen, als »Gaia«, in dem und mit dem der Mensch interagiert, möglichst ohne es zu zerstören. Fest steht: Bruno Latour hat wieder ein spannendes, in Teilen provokatives Gedankenkonstrukt entwickelt, das viele Gewissheiten des gesellschaftlichen Mainstreams erschüttert.

Bruno Latour: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown. A. d. Franz. v. Achim Russer und Bernd Schwibs. Edition Suhrkamp, 199 S., br., 16 €.

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