- Politik
- Syrischer Bürgerkrieg
Blicke aus dem vierten Stock
Der syrische Fotograf Issa Touma dokumentiert das Leben vor und nach der Zerstörung von Aleppo
Es regnet in Strömen. Die Straßen in Aleppo haben sich in kleine Sturzbäche verwandelt. Die alte Kanalisation der Stadt ist lange nicht gewartet worden und schafft es nicht, das Wasser aufzunehmen. Strom ist knapp, und es ist dunkel, als wir versuchen, die Galerie Le Pont von Issa Touma zu finden. Er dirigiert uns per Handy, und schließlich kommt der Wagen in einem dunklen Hof zum Stehen. Aus einer Tür fällt ein blasser Lichtstrahl. Ein Schatten winkt herüber: »Willkommen, hier sind Sie richtig.«
Der Eingang der Galerie ist mit Plakaten früherer Ausstellungen und Festivals gepflastert. In den Regalen liegen Werbekarten etwas verstaubt und durcheinander. »Bitte nehmen Sie mit, was Sie interessiert«, bietet Touma an. In der Galerie habe er schon lange keine ausländischen Gäste mehr gesehen, sagt er. Tee und Kekse stehen auf einem Tisch, aus der einzigen Lampe im großen Raum fällt fahles Licht.
»Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen die Bilder kurz«, meint der Fotograf. »Das Licht kann jeden Moment wieder ausgehen.« Langsam führt Touma an den Fotografien vorbei, von denen die meisten in Schwarz-Weiß gehalten sind. Bei den Bildern über »Sufismus in Ost-Aleppo«, sagt er, dass die meisten Sufis von den Dschihadisten ermordet wurden. »Ich weiß nicht, warum. Aber sie hassen die.« Es folgen Aufnahmen von Menschen im Armenischen Haus, einem Seniorenheim, Eisenhändler an der Alten Ommayyaden Moschee unterhalb der Zitadelle. Und schließlich gibt es die Fotos von den »Frauen, die wir noch nicht verloren haben«. Unter diesem Titel hat Touma 15 junge Frauen porträtiert, die im April 2015 in Aleppo Zuflucht suchten, als radikale Islamisten die Stadt angriffen. Touma öffnete den Frauen die Galerie, wo sie eine Woche miteinander ausharrten, bis der Angriff zurückgeschlagen wurde. Er habe die Frauen fotografiert, die aus verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen kamen, »wie es hier bei uns in Syrien und besonders in Aleppo normal war und ist«, fügt er hinzu. In Interviews hätten sie von ihrem Leben, ihren Ängsten und ihren Wünsche für die Zukunft berichtet. Im Vorwort zu dem Buch, das daraus entstand, heißt es, die Geschichten seien ein »Schrei nach Freiheit der Frauen«, die Syrien noch nicht verloren habe – an den Tod, an das Exil oder an die Unterdrückung.
Der Fotograf erinnert an den Tee, der nicht ganz kalt werden soll. Kaum haben wir Platz genommen, geht das Licht aus.
Die zwei Millionen Einwohner zählende Stadt Aleppo wird nur provisorisch mit Strom versorgt, seit das Elektrizitätswerk 2015 beim Angriff der islamistischen Kämpfer zerstört wurde. Strom aus Mhardeh in der südlich gelegenen Provinz Hama kann Aleppo nicht erreichen, weil die Überlandleitungen durch die Provinz Idlib führen und die Strommasten zerstört sind. Wegen der Sanktionen der Europäischen Union und der USA ist es Syrien noch nicht gelungen, eine neue Turbine ins Land zu bringen. Es werde daran gearbeitet, heißt es. Der Iran werde die Turbine schon bald installieren. Dann wird es für ganz Aleppo wieder mehr Strom geben. Vorausgesetzt, Syrien kann das Öl besorgen, mit dem die Anlage betrieben werden muss. Die syrischen Ölfelder Rmeilan im Nordosten und das Omari-Feld im Osten sind von US-Truppen besetzt. Die Soldaten sorgen dafür, dass die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte das Öl erhalten und verkaufen können. Zu den Abnehmern gehört auch die syrische Regierung.
Issa Touma verschwindet kurz in einem Nebenraum und kommt mit einer Petroleumlampe zurück. »So ist das bei uns hier«, sagt er schulterzuckend und beginnt zu erzählen. Die Galerie habe er erstmals 1992 geöffnet. 1997 habe er die Organisation »Le Pont. Die Brücke« gegründet und eine neue Galerie eröffnet. Das von ihm jährlich organisierte Internationale Foto-Festival Aleppo zog Fotografen aus aller Welt an. Damals sei die Fotogalerie die einzige im Mittleren Osten gewesen, sagt Issa Touma stolz. Er habe viele Kontakte in alle Welt gehabt.
Als der Krieg 2011 begann, haben die Europäer und westlichen Ausländer das Land über Nacht verlassen, und als der Krieg später näher an die Stadt heranrückte, zogen viele Aleppiner sich nach Latakia an die Küste zurück. Nicht wenige flohen auch nach Europa. Touma aber blieb und beobachtete die Entwicklung, die ganz anders gewesen sei, als es in westlichen Medien beschrieben wurde. »Die Aleppiner sind Geschäftsleute, sie wollten sich aus der Politik raushalten«, erinnert er sich.
Allerdings fassten bewaffnete Islamisten in den nordöstlichen Randgebieten der Stadt Fuß, die durch Landflucht und Bevölkerungswachstum unübersichtlich geworden waren, und sagten der säkularen Gesellschaft im Zentrum der Stadt den Kampf an. Im August 2012 erreichten sie den Ostteil der Altstadt. Die Bewohner der alten Viertel flohen. Issa Touma, der im vierten Stock eines Hauses in Al Jedideh lebte, blieb. Eines Morgens überflog ein Hubschrauber die Altstadt, und in der Straße vor seinem Haus hatten bewaffnete junge Männer eine Barrikade errichtet. Issa Touma griff zur Kamera und filmte neun Tage lang, wie der Krieg in Aleppo vor seinem Haus begann.
Die Aufzeichnungen beginnen am Morgen des 19. August 2012, um 8.15 Uhr. Fremde beziehen Stellung in seiner Straße, über Lautsprecher sagt eine Stimme: »Es ist besser, Ihr ergebt Euch. Wenn Ihr Eure Waffen niederlegt, werdet Ihr sicher sein. Das ist Gottes Wille. Bashar al-Assad wird Euch nicht retten. Gott ist der Größte.« Ein junger Mann mit Mikrofon und Baseballmütze steht lässig an die Barrikade aus Zementsäcken gelehnt. »Hi Soldat«, sagt er ins Mikrofon. »Gib Deinen Posten auf und komm’ zu uns rüber.« Als Antwort folgt eine Salve aus Gewehren, die laut durch die enge Straße hallt. »Glaubt Ihr, Assad wird Euch nutzen? Glaubt Ihr, Assad ist an Eurer Seite? Gott ist mit uns!«
Die Kämpfer in der Straße sähen aus wie Collegejungen, kommentiert Issa Touma seine Aufnahmen. »Sie sind frisch rasiert und tragen normale T-Shirts. Sie sehen unvorbereitet aus, nicht wie jemand, der Kriegserfahrungen hat.« Etwa hundert Meter von der Barrikade entfernt sei die syrische Armee in Stellung. »Und in der Straße vor meiner Wohnung verstärkt die Freie Syrische Armee ihre Barrikade.« Er schlafe nicht mehr in seinem Bett, sagt Issa Touma zu den Aufnahmen von Tag zwei. Das Sofa in der Küche sei sicherer. Am sechsten Tag hält er mit seiner Kamera fest, wie einer der jungen Kämpfer erschossen wird, am nächsten Morgen ist die Freie Syrische Armee verschwunden.
Die Bewohner beginnen die Barrikade zu zerstören und machen die Straße wieder frei. »Einige der Leute sind die gleichen, die die Barrikade anfangs gebaut haben«, kommentiert Touma. Er habe den Eindruck, »dass einige der Nachbarn für beide Seiten arbeiten.« Am achten Tag gießt Touma wieder die Blumen auf seinem Balkon, die Anspannung lasse nach, kommentiert er. »Am Abend sind die Geschäfte wieder geöffnet, die Leute kommen auf die Straße, trinken Tee, lachen miteinander.« Tag neun beginnt wieder mit Schüssen. »Die Kämpfer kehren in meine Straße zurück«, sagt Issa Touma, während er vorsichtig versucht, über die Brüstung des Balkons zu filmen. Die Kämpfer sehen anders aus als zuvor. »Sie sind schwer bewaffnet, tragen Bärte. Bisher habe ich nur von ihnen gehört, es ist Liwa al-Tawhid.« Die rechte Hand der Muslimbruderschaft.
Professionell bauen die Männer die Barrikade wieder auf und verstärken sie. Issa Touma sagt: »Das syrische Fernsehen bezeichnet sie als Terroristen, die internationale Presse nennt sie Freiheitskämpfer.« Er selber sei auf keiner Seite, aber es sei eine Lüge, dass »die Revolution überall friedlich begonnen hat. Hier in meiner Straße, der Al Said Ali Straße, begann sie mit Waffen. Ich will den Krieg nicht länger filmen.«
Es sollte länger dauern, als Issa Touma an Tag neun vorausgesehen hatte. Hunderttausende kamen vom Osten in den Westen der Stadt, die geteilt und von bewaffneten Gruppen belagert wurde. Es gab weder Strom noch Wasser, die Straßen- und Häuserkämpfe, an denen auch syrische Regierungstruppen beteiligt waren, richteten große Zerstörung an. 2014 verließ der Fotograf Aleppo, um seine Aufnahmen und sein Archiv in Sicherheit zu bringen. Er lebte als »Künstler im Exil« in Finnland, Schweden und Österreich. Er tourte durch Europa, zeigte seine Fotos und Filme, redete auf Podiumsdiskussionen über die Lage in Aleppo und in seinem Heimatland. Er sprach anders, als es die europäische Öffentlichkeit von den Medien gewohnt war. Oft gab es hitzige Wortgefechte mit denen, die als Oppositionelle vorgestellt wurden, erinnert er sich. Er habe standgehalten, denn er habe den Beginn des Krieges in Aleppo erlebt.
Mit Unterstützung von holländischen Kollegen entstand aus den Aufnahmen vom August 2012 schließlich der Kurzfilm »Neun Tage: Aus meinem Fenster in Aleppo«, der 2016 als bester Kurzfilm mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde.
Wenige Tage nach der Preisverleihung kehrte Issa Touma im Dezember 2016 nach Aleppo zurück. Die bewaffneten Gruppen waren nach Idlib evakuiert worden. Touma dokumentierte in einem neuen Film »Grüße aus Aleppo«, wie das Leben in seine schwer zerstörte Heimatstadt zurückkehrt. Er filmte die Weihnachtsfeierlichkeiten in Aziziyeh, einem christlichen Viertel in Aleppo, wo der Weihnachtsbaum mit Strom vom Generator erleuchtet wurde. Er filmte Jugendliche auf einer Tanzparty und begleitete eine Familie, die in ihre Wohnung zurückkehrte. Er nahm einen Friseur auf, der einen provisorischen Stuhl auf die Straße gestellt hatte, auf dem er einem Mann die Haare schnitt und ihn rasierte. Und schließlich war da Abu Mahmoud, der wieder jeden Tag die Straße vor dem Haus von Issa Touma kehrte, wie vor dem Krieg.
Es ist spät geworden. Der Tee ist ausgetrunken, und es ist kalt geworden. Ob wir ihn ein Stück mitnehmen könnten, fragt der Fotograf. Wenig später setzen wir ihn vor dem Haus seiner Mutter in Aziziyeh ab. Es werde noch dauern, bis er seine Wohnung wieder beziehen könne, sagt er. Wenn er Geld und Material habe, renoviere er, aber alles sei teuer und vieles sei auf dem Markt nicht zu finden. Für den nächsten Morgen verabreden wir uns in seiner Wohnung.
Das Haus in der Al Said Ali Straße liegt nur wenige Hundert Meter von dem belebten Geschäftsviertel Aziziyeh entfernt. Draußen wie drinnen sind die Wände voller Einschusslöcher, hohe Stufen führen durch ein düsteres Treppenhaus. Die Wohnung von Issa Touma liegt im vierten Stock. Die Räume sind hoch, der Eingangsbereich ist vollgestellt mit Farbeimern, Holz, Werkzeug und Planen. »Hier ist das rote Zimmer, aus dem ich gefilmt habe«, sagt er und öffnet eine Flügeltür. Im hinteren Bereich liegt die Küche. Dann geht es durch einen weiteren Innenraum, den Salon, und in eine Art Wintergarten. Nichts erinnert mehr an das Chaos seiner Wohnung, das er auf Fotos nach seiner Rückkehr festgehalten hatte. Die Wände sind gestrichen, die Zimmer sparsam möbliert, die großen Fenster geben den Blick frei auf die Altstadt und die Zitadelle. Schmuckstück ist der Balkon, auf dem ein Gemüse- und Kräutergarten angelegt ist, eingerahmt von großen Feigenkakteen. »Sie haben den Krieg unbeschadet überstanden«, lacht Issa Touma und zeigt auf zwei Ableger, die er vor dem Fenster des Schlafzimmers eingepflanzt hat.
Die Altstadt liegt aber noch in Trümmern. »Hier standen die besten Hotels, die besten Restaurants, Jedideh war bekannt in Aleppo und darüber hinaus«, sagt er nachdenklich. Viele der alten arabischen Häuser hätten reichen Geschäftsleuten und arabischen Millionären gehört. »Wir wissen nicht, ob sie zurückkommen und wiederaufbauen werden.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.