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»Eigentlich ist Verfall das A und O«
Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll im Havelland vor 40 Jahren: Ein Gespräch mit Torsten Schulz über seinen neuen Roman »Öl und Bienen«
Ihr neuer Roman »Öl und Bienen« spielt im Havelland in Brandenburg. Wann waren Sie das letzte Mal da?
Torsten Schulz ist Schriftsteller, Dramaturg und Drehbuchschreiber. Geboren 1959 in Ost-Berlin, lebt er seit fast vier Jahren auf dem Land in Mecklenburg. Im Frühjahr erschien »Öl und Bienen«, sein vierter Roman.
Vor circa fünf Jahren, als ich noch in Caputh bei Potsdam wohnte. Ich bin öfters ins Havelland gefahren, um nach den Orten zu suchen, wo einst nach Erdöl und Erdgas gebohrt wurde.
Das sind genau die Energieträger, die Deutschland jetzt auch wieder sucht, weil man sie von Russland nicht mehr haben will. Ihr Buch spielt allerdings im Sommer 1979. Die DDR war also auch schon auf der Suche?
Ja, man versuchte, gegenüber dem Großen Bruder in puncto Energie selbstständig zu sein – bei aller verkündeten großartigen Freundschaft. Aber das ist nie gelungen. Entsprechende Bohrunternehmungen im Havelland und auch anderswo in Brandenburg und Vorpommern, sogar auf Hiddensee, wurden früher oder später abgebrochen. Der Aufwand hat sich nicht gelohnt. Die Orte haben teilweise so pittoreske Namen wie Knoblauch oder Kotzen.
Kotzen?
Ja. Erdöl in Kotzen. Das wäre auch ein guter Titel gewesen, aber natürlich für einen etwas anderen Text.
Stattdessen haben Sie nun die Bienen genommen. Haben Sie deren Verhalten bei einem Imker studiert?
Als Kind beobachtete ich oft Bienen in freier Natur. Und ich hatte ein Initiationserlebnis mit Bienen. Meine Eltern besichtigten eine Laube bei schlechtem Wetter. Nach dem Kauf fuhren wir raus, und es war gutes Wetter mit viel Sonne. Und da schwirrten Bienen umher, die ihr Zuhause in der Rückwand der Laube hatten, wie sich herausstellte.
Wie im Haus des Ihmschen, einer Ihrer Protagonisten.
Ja, das ist der authentische Hintergrund. Mein Vater war ein übermütiger Typ. Er konsultierte einen Imker, und der – offenbar auch ein übermütiger Typ – sagte: »Räuchern Sie die aus!« Mein Vater hatte nichts Besseres zu tun, als die Rückwand aufzukloppen, Teer reinzuschmieren und anzuzünden. Das Dach des Häuschens fing Feuer. Es war am späten Abend, ich schlief schon. Es brannte, und man holte mich raus. Ich dachte vermutlich, ich träumte. Deshalb bin ich wieder reingegangen und habe mich erneut hingelegt – und wurde wieder rausgeholt, sozusagen gerettet. Das Dach aber konnte nicht gerettet werden, obwohl die ganze Siedlung mit Wassereimern half. Aber so lernt man sich kennen: Alle kamen zusammen. Das habe ich über die Jahre mit mir herumgetragen, und jetzt fügt sich eins zum anderen im Roman.
Nur dass der nicht in einer Laubenkolonie spielt, sondern in einer fast verlassenen Siedlung. Wie ist Ihnen dieser Ort namens Beutenberge überhaupt eingefallen?
Ja, das ist mehr oder weniger eine Imagination. Beutenberge ist nicht organisch gewachsen, sondern provisorisch errichtet und dann auch schnell wieder verlassen worden. Daran knüpfte sich die Erzählidee. Ein Ort, an dem es Erdöl hätte geben können, das dann aber doch nicht sprudelte. Diesen schweren Rucksack des Erdölsuchens muss meine Figur, die der Ihmsche genannt wird, auf ihren schmalen Schultern schleppen.
Er hat diese Idee von seinem Vater übernommen und der wiederum von seinem Großvater.
Und das macht ihn in mehrfacher Hinsicht regelrecht impotent. Er hat nur seine beiden Freunde, die »Blutblase« und »Krücke« genannt werden. Auch bei denen ist die sexuelle Lust nicht so stark. Was da ist, wird kompensiert – durch Musik, durch Alkohol. Sie werden auch mutlos. Wie es so ist bei Männern, die lange Single sind: Sie verlieren die Instrumente, um erfolgreich tätig zu werden. Eigentlich ist alles gar nicht so schwer, aber für sie schon.
Die Figuren sind erst Mitte 30 und wirken schon wie Rentner.
Ja, aber sie benehmen sich wie Jungs, die sich noch in der Postpubertät befinden. Solche Menschen sind mir zuhauf begegnet, als ich 19 war – und das war 1979.
Ah, aber Sie sind doch Ostberliner, kein Provinzler.
Ja, aber der Städter, und nicht zuletzt der aus der Arbeiterklasse kommende Städter wie mein Vater, war bestrebt, eine Laube auf dem Land zu haben. Und so kam ich ins Umland von Berlin. Da verbrachten wir regelmäßig die ganzen Sommerferien, acht Wochen.
War Ihnen die Rockmusik, vor allem die aus dem Westen, auch so wichtig wie ihren drei Helden?
Na klar. Ich war damals viel unterwegs und guckte immer, wo sogenannte Coverbands spielten. Uriah Heep oder Deep Purple kamen ja nicht in die DDR. Freischütz hieß zum Beispiel eine Band, die spielte fast nur Uriah Heep. Der Sänger hatte eine entsprechend hohe Stimme. Eine andere Band hatte den denkbar schlichten Namen Soft. Die spielten Jethro Tull. Und der Sänger und Flötist, der stand, während er spielte, auf einem Bein, wie Ian Anderson. Die Nachahmung ging bis ins Detail, das Publikum goutierte das. Wir waren viel im Hyde-Park in Berlin-Friedrichshagen, wo die Musiker zum Schluss mindestens so besoffen waren wie das Publikum. Da waren auch allerhand in dieser Lebensart hängengebliebene Dreißiger, die auf mich schon recht alt wirkten. Aber ich bewunderte sie, weil sie so etwas wie Freiheit verkörperten. Die hatten viel Zeit und jobbten irgendwas. Du musstest ja arbeiten in der DDR, sonst wurdest du als asozial abgestempelt und wandertest in den Knast. Aber es gab natürlich Jobs noch und nöcher und keinerlei Arbeitslosigkeit.
Die Figuren reden auch viel krauses Zeug.
Aber auch kreativ und pointiert. Ich bin nicht böse, wenn jemand den Vergleich mit Figuren aus Kaurismäki-Filmen macht. Für mich ist das mein Sex-and-Drugs-and-Rock’n’Roll-Roman à la Havelland. Drugs – das war Alkohol, etwas anderes gab es ja nicht. Gut, ein bisschen gekifft wird auch, weil Krücke, der als Invalidenrentner ja in den Westen darf, was mitbringt. Er macht dort die Mitleidsnummer – ein armer Krüppel. Oder er tut so, als hätte er im Widerstandskampf sein Bein verloren, weil er vor der Polizei flüchten musste.
Wie hat er noch mal sein Bein verloren?
In Wahrheit ist er vor einer Frau geflüchtet, die er auf eine Heiratsannonce hin in einem Café traf. Die kam an und humpelte. Offenbar hatte sie ein Holzbein oder einen Klumpfuß. Krücke wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, ging aufs Klo, flüchtete durch den Hinterausgang und geriet unter ein Auto.
Die Männer in Ihrem Buch geraten bei Frauen schnell durcheinander. Sie sind mutlos.
Ja, sie ziehen den Schwanz ein sozusagen. Zum Beispiel der Ihmsche: Was soll er machen? Ohne Vater groß geworden, und die Mutter ist nur schlecht auf Männer zu sprechen, die würden nur ins Verderben führen. Und ihre beiden Freundinnen reden genauso. Eine ist lesbisch.
Es fällt auf, dass bei Ihren Bienen im Roman Honig überhaupt keine Rolle spielt.
Ja.
Stattdessen gibt es eine Bienenkönigin, die in die Siedlung kommt: Agnes. Und Krücke, der Ihmsche und Blutblase sind ihre Drohnen.
Genau. Agnes macht nicht viel Federlesens. Ich habe es des öfteren beobachtet, dass sich Männer miteinander eingrooven. Die bilden eine Bastion, und da kommt eine Frau nicht so leicht rein. Agnes schafft es, als Walküre aus der Vergangenheit des Ihmschen. Das ist dann die Abteilung Sex von Sex, Drugs and Rock’n’Roll.
Warum hören Krücke, Blutblase und der Ihmsche keinen Folk?
Weil es absolut nicht ihres ist. Stattdessen wissen sie auf die Sekunde genau, wann in »Stairway to Heaven« das Schlagzeug von John Bonham einsetzt. Und für den intellektuellen Teil ihres Gemüts hören sie Frank Zappa. Ihre Zappa diskutierende Art ist charmante Hochstapelei. Und schließlich lieben sie Rituale. »Ich senke die Nadel auf die Platte herab«, sagt Krücke jedes Mal, wenn er eine Platte vorspielt. Das ist bewusst antiquiertes Sprechen.
Wo haben Sie das eigentlich her?
Das habe ich mir selber ausgedacht. Außerdem liebe auch ich Rituale. Mit eigenen Ritualen erschafft jeder gewissermaßen seine eigene Kultur. Reden, Tanzen – in der Summe hat das eine politische Dimension. Und der heutige Edwin Kronokiewitschky alias Blutblase spricht auf ritualisierte Weise in der Kneipe zu seinem Publikum. Er erzählt Geschichten, die man, wie er an einer Stelle sagt, nicht im Fernsehen sieht und nicht im Radio hört.
Er spricht gegen den Blick des Westens auf den Osten?
Ja, auch. Vor allem aber: In jeder Hinsicht – ob Osten, Afrika oder was auch immer – walten stets und ständig Stereotype. Beim Thema DDR geht’s so gut wie nie ohne Stasi, Partei, FDJ. Da gehe ich anders ran, und dafür steht die Figur Blutblase, die den Roman als Erzählung in einer Kneipe eröffnet. In dem Maße, wie er seinen Erzählstoff genau und auf lebendige Weise kennt, kann er ins Märchen- und Legendenhafte abdriften. Das Abdriften profiliert die Wahrhaftigkeit seines Textes.
Eine destruktive Legende: Erst geht beim Ihmschen alles kaputt, und zum Schluss löst sich die Siedlung auf.
Pars pro toto wie im sogenannten wirklichen Leben.
Und die Überlebenden treffen sich dann wie bei Ihnen in der Psychiatrie?
An Verfallsgeschichten herrscht kein Mangel, im Osten nicht, aber auch nicht im Westen, Norden und Süden. Eigentlich ist Verfall das A und O. Das Einzige, worauf Verlass ist.
Aber warum fährt Agnes allein wieder ab? Warum nimmt die Bienenkönigin nicht ihr Volk mit?
Sie ist eine Alleinfliegerin. Es gibt ja dieses Schlussbild, wo verschiedene Drohnen hinter ihr fliegen.
Und hat der Ihmsche das geahnt? Denn der hat ja auch den größten Respekt vor ihr.
Vermutlich. Er hat sie schon auf dem Bau kennengelernt, als er noch ein guter Maurer war. Sie war größer, kräftiger und besser als er. Schon da wollte sie etwas von ihm, das konnte er nicht bewältigen. Da ist er vor Schreck vom Gerüst gefallen und hat sich in die Arbeitsunfähigkeit geflüchtet.
Das ist doch alles sehr universell. Warum werden Sie eigentlich immer noch als Ost-Schriftsteller gehandelt?
DDR, Osten, das ist die Schublade. Der Roman wird ja auch beworben als DDR-Roman. Ich habe das akzeptiert und denke mir, die Leute vom Marketing wissen vielleicht, dass sich »DDR-Roman« besser verkauft als einfach nur »Roman«. Ich bin mir aber nicht sicher. Ich glaube, dass ich es beim nächsten Mal verhindern werde. Nicht dass das »Ost-Erzählen« noch zu einer Art Nischenprogramm gerät.
Ich finde, schon »Boxhagener Platz«, Ihr Debütroman von 2004, war der erste Ost-Berlin-Roman, in dem die DDR keine Rolle mehr spielt.
Das freut mich.
Torsten Schulz: Öl und Bienen. Klett-Cotta,
224 S., geb., 22 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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