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- Kapitalismuskritik
Prost, auf gute Zeiten!
Sibylle Berg rechnet mit dem digitalen Kapitalismus ab
Dieser Roman ist übel, er ist böse, und er enthält eben auch die verdammte Wahrheit. In Sibylle Bergs Roman hämmert geballter Zynismus und Wut über die heutige Welt auf uns ein. Und entlarvt zugleich ungemein unterhaltsam den Raubtierkapitalismus. Nach dem 2019 erschienenen Roman »GRM. Brainfuck« liegt nun der zweite Teil einer Trilogie vor.
Die Mittelschicht ist schon gänzlich erodiert, es sind nur noch wenige Megareiche und viele Arme übrig. Letztere verdingen sich mit mehreren Jobs bei Lieferdiensten für ein menschenunwürdiges Gehalt. Als Dank haben sie nicht einmal mehr Zugang zu Badewannen. Denn die »waren verschwunden, zusammen mit der Krankenversicherung, dem Arbeitslosengeld (…). Inzwischen standen die Leute frierend unter kaltem Wasser – oder hatten Waschbecken. Unbehaglich, aber gut fürs Klima«. Na dann »Prost« – wie der Erzähler oftmals in dieser Geschichte sagt.
Um sich vom erbärmlichen Dasein abzulenken, bietet die Glotze noch Erheiterndes. Da Mieten nicht mehr bezahlt werden können, kämpfen im Reality-TV Männer um Wohnungen. Prost! Depressive Stimmung herrscht auf den Straßen dieser schönen neuen Welt: »Jedes Gesicht sagte: ›Ich habe aufgegeben, nehmt mich, entbeint mich.«
Aber nein, so weit muss es nicht kommen. Es gibt ja auch noch Sonnenseiten, auf denen sich zumindest die Besserverdienenden bräunen lassen und sich auf Jachten und Privatinseln langweilen. Haben sie ihre Kapitalberge nicht durch Steuerflucht und Cum-Ex-Geschäfte angehäuft, bekommen sie Dividenden von der Rüstungsindustrie oder durch Beteiligungen an dem Investmentmogul »Blackrock«. Zum Glück ist jinzwischen alles privatisiert: die Schienen, auf denen der Atommüllzug seine Kreise dreht, oder auch die Haftanstalten, die aus dem 3D-Drucker kommen.
Wie mit einer Überwachungskamera aus dem geheimen Schaltraum eines der großen Tech-Unternehmen lässt uns Sibylle Berg immer wieder kurz in die Biografien unterschiedlichster, meist stark klischierter Figuren wie »der Obdachlose«, »der Katastrophengewinnler« oder »die Direktorin« eintauchen. Abseits dieser durchweg komischen Karikaturen gewinnen vor allem die Protagonisten Ben, Kemal, Maggy, Pavel und Rachel an Kontur. Was die schon aus »GRM. Brainfuck« bekannten Hacker nunmehr im Schilde führen, versteht sich als eine Anstiftung zum Umsturz. Mit ihrem geballten IT-Wissen manipulieren die jungen Erwachsenen die Systeme der Banken und Firmen, speisen Videos über Geldwäsche und Korruption in die sozialen Netzwerke ein und rufen somit eine Rebellion der Zornigen gegen die dekadenten Machthaber hervor. Zwischen den Fronten finden sich allenfalls noch die wenigen »Wohlmeinenden« wieder, die grün-alternativen Bürger, die sich an ihren »Trans-Freunden« und Fahrradwegen erfreuen und an »Grünkohl, den sie dann zu Schlemmerdrinks pürierten«. Prost!
Neben dem schwarzen Humor und der bissigen Sozialkritik brilliert Berg hier durch die Form. Die 1962 in Weimar geborene Autorin entwickelt eine überzeugende Ästhetik für die digitale Epoche. Immer wieder findet sich im Übergang von einer Figurenskizze zur nächsten der kursiv gesetzte Hinweis »zur gleichen Zeit«. In einer beschleunigten Gegenwart laufen alle Prozesse synchron ab.
Nur wer könnte sie alle in ein und demselben Moment überschauen? Gewiss nur eine Art göttlicher Erzähler. Passend zur Globalisierung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft scheint sein schweifender Blick nicht durch irgendwelche Grenzen beschränkt zu sein. Alternativ könnte sich hinter dem Erzähler auch eine sehr effiziente Maschine, ein Algorithmus respektive eine künstliche Intelligenz verbergen. Mit Wucht, schonungsloser Anklage und zornigen Anschlägen auf einer glühenden Tastatur legt Berg ein Gesellschaftspanorama vor, das weder an Groteske noch an Schauerlichkeit zu überbieten ist. Ob der dritte Band mehr Hoffnung zulässt? Nach der Revolution ist bekanntlich vor der Revolution. Wohl bekomm’s!
Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution. Kiepenher & Witsch, 704 S., 26 €.
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