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Im Gefängnis der Sprache

Mit »Kangal« hat Anna Yeliz Schentke einen Roman über politischen Widerstand in der Türkei geschrieben

  • Mesut Bayraktar
  • Lesedauer: 5 Min.
Der »Kangal«, der anatolische Hirtenhund, wird vor Wolfsangriffen mit einem dicken Nagelhalsband geschützt. Im Roman ist er eine Metapher.
Der »Kangal«, der anatolische Hirtenhund, wird vor Wolfsangriffen mit einem dicken Nagelhalsband geschützt. Im Roman ist er eine Metapher.

»Kangal« ist die Bezeichnung für den anatolischen Hirtenhund, der in türkischen Dörfern für Schafherden oder als Wachhund eingesetzt wird. Ein Kangal ist groß, muskulös und hat dichtes, weißes Fell mit dicker Unterwolle. Um den Nacken wird ihm in Dörfern meist ein breites Halsband mit langen Nägeln gelegt, um Genick und Kehle vor Wolfsbissen zu schützen. Mit dem Wort »Wölfe« verbindet man in der Türkei auch »Graue Wölfe«, wie sich türkische Nationalisten bezeichnen. Diese Metaphorik steckt bereits im Titel des gleichnamigen und schmalen Debütromans von Anna Yeliz Schentke.

Dilek, die Protagonistin, nennt sich in sozialen Medien »Kangal1210«. Von einem Tag auf den anderen verlässt sie Hals über Kopf die Türkei. Niemand erfährt davon, auch ihrem Partner Tekin sagt sie nichts. Sie flieht mit einem Flugzeug aus Istanbul nach Frankfurt, wo sie ihre Cousine Ayla nach vielen Jahren wieder trifft. Diese beiden Städte werden im Verlauf der Erzählung so nah zusammengerückt, als würde sie nur ein kleiner Fluss trennen. Ob Dileks Name auf einer Liste türkischer Polizeibehörden steht, weiß sie nicht. Sie hat Angst, das weiß sie, und deshalb geht sie davon aus, bald verhaftet zu werden. Sie ist radikal, für ihren Partner Tekin auch »radikal dumm«, er versteht ihre Beweggründe für die Flucht nicht. Tekin nimmt eine Verhaftung in Kauf, wie Dilek mutmaßt, und so fragt sie rhetorisch: »Wie willst du aus dem Gefängnis heraus kämpfen?« Sie antwortet sich selbst. Wenn Tekin »Kampf« sage, heiße das für sie »Widerstand«, und gemäß der Erzählung ist das für Dilek: Flucht ins Ausland. Also bricht die junge Frau nach Frankfurt auf, wo sie sich allerdings im türkischen Milieu in einer Atmosphäre der Denunziation wähnt. Ob sie sich auch im Exil für den Widerstand engagiert oder nicht, bleibt im Roman ungeklärt.

Offensichtlich ist, dass sie und ihr Partner Tekin im Zuge der Gezi-Proteste 2013 politischen Widerstand geleistet haben. Wie sie protestiert haben, wofür und wogegen, das erfährt man nicht, auch nicht, ob die Gefahr, verhaftet zu werden, real ist. »Wir können es nicht wissen«, sagt an einer Stelle Tekin, und man ist im Einklang mit der Gesamtstimmung im Roman zur Schlussfolgerung geneigt, dass Literatur die Dynamik von Macht und Herrschaft nicht hinreichend zu beschreiben vermag. Vielmehr werden die deshalb entstehenden Leerstellen in den kurzen Kapiteln mit der abstrakten Anwesenheit eines Staatsgewaltapparats besetzt. So liest man zum Beispiel »İsmi Lazım Değil«, übersetzt: »Kein Name erforderlich«. Und doch ist klar, von wem die Rede ist, nämlich dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. So entsteht der Eindruck von der Allmächtigkeit eines Mannes in Ankara und seines Regimes in Istanbul – einer Metropole, in der sich soziale Widersprüche und Konflikte des ganzen Landes verdichten, die aber andererseits auch vor allem im Westen den falschen Schein erweckt, sie sei die ganze Türkei.

Anlass für die Flucht von Dilek sind die Massenverhaftungen, die in den Wochen nach dem militärischen Putschversuch vom 15. auf den 16. Juli 2016 erfolgten, was der türkische Staatspräsident seinerzeit als »Geschenk Gottes« bezeichnete und für den autokratischen Umbau des türkischen Staats nutzte. Die Gezi-Proteste 2013 und der Putschversuch 2016 – zwei entscheidende Wendepunkte in der jüngeren Geschichte der türkischen Republik – bilden in »Kangal« die Koordinaten politischer Gewalt. Leider vermeidet Schentke hierbei, diese Ereignisse erzählerisch mit gesellschaftlichen Kämpfen zu verknüpfen. Vielmehr geht es um psychologische Reaktionen auf politische Gewalt und ihre Folgen für fragile Freundschaft, entfremdete Verwandtschaft und uneinige Partnerschaft.

Neben Dilek kommen noch Ayla und Tekin zu Wort, abwechselnd von Kapitel zu Kapitel, ebenso wie Dilek stets kurz angebunden auf ein bis drei Seiten, atemlos von Ohnmacht oder Paranoia getrieben, im Präsens wie im Präteritum, mit etlichen türkischen Wörtern angereichert, manchmal abgehackt und die Gedanken in Doppelabsätzen zerklüftet, aber immer mit derselben angstbesetzten Innerlichkeit wie die Protagonistin.

Während Tekin sich schematisch mit Lippenbekenntnissen aus der politischen Romantik des Überübermorgens vertröstet, was hinter Gesten des Rebellischen versteckt wird, paart sich in der Figur von Ayla ein zaghafter Emanzipationswunsch mit sympathischer Naivität. Sie hat sich von ihrem Verlobten getrennt, weil er sie geschlagen hat. Außerdem studiert sie heimlich, obwohl sie nach dem Wunsch der Eltern den Laden ihres Vaters übernehmen soll. In politischen Fragen ist sie ahnungslos. Erst als Dilek bei ihr in Frankfurt auftaucht, stellt sie sich Fragen nach Leben und Tod, die bekanntlich zum Kernbereich von Politik gehören. Dabei kommt es zu einer Aussprache mit der Mutter: »Ihr bringt mir bei, mich Türkin zu nennen, aber was das bedeuten soll, das soll ich selbst herausfinden.« Diese Aussage hätte man bei Ayla kaum vermutet. Die Konfrontation mit Dilek entlockt sie ihr und verleiht der Figur Lebendigkeit.

Solche Momente sind jedoch selten. Daher vermittelt der Text streckenweise, dass die drei Figuren Gefangene ihrer Gedanken sind, als wären sie lediglich imstande, Selbstgespräche zu führen, als wäre die Sprache nur dafür da, um an ihrem eigenen Zweck zu scheitern. Folglich brechen die von Unbehagen und Misstrauen gekennzeichneten Beziehungen zwischen Dilek und Tekin sowie Dilek und Ayla plötzlich ab. Ob die reale oder imaginierte Gewalt am Ende gesiegt hat, ist unerheblich. Das könnte das Fazit sein.

Trotzdem ist der Roman mutig, allein schon wegen der Thematik. Daher bleibt zu hoffen, dass Anna Yeliz Schentke in ihren künftigen Erzählungen das Thema Widerstand wieder aufgreift und literarisch fortführt. Ist Exil die einzige Option? Was folgt im und was nach dem Exil? Lässt sich ein Kangal überhaupt verjagen? Die Direktheit von Schentkes Sprache und ihre Fähigkeit, Unterdrückung beim Namen zu nennen, sind vielversprechend.

Anna Yeliz Schentke: Kangal. S. Fischer, 208 S., geb., 21 €.

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