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Kommunismus auf der Liegewiese
Im Freibad ist die klassenlose Gesellschaft im Naturzustand zu bewundern
Es ist schlecht bestellt um den Austausch zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Pardon, es muss natürlich heißen: Schichten. Wir sind schließlich nicht in England, wo das Wort Klassen-KAMPF bis in die 80er Jahre hinein noch wörtlich zu verstehen war, gebrochene Rippen und Gehirnerschütterungen inklusive.
Heute hingegen bleiben die Schichten sauber voneinander getrennt. Immer mehr Stadtteile definieren sich über das Bankguthaben ihrer Bewohner. Reihenweise kauft sich die Generation Erben in Szeneviertel ein und verdrängt die Alteingesessenen. »St. Pauli hat uns ausgespuckt«, beklagte Deutschlands weisester Songwriter Bernd Begemann bereits 2015.
Das war mal anders. In den 60er und frühen 70er Jahren erweiterten sozial gesinnte westdeutsche Stadtplaner Schillers Ausspruch »Alle Menschen werden Brüder« um den Passus »und deshalb werden sie gefälligst auch Nachbarn«. So entstanden Wohnviertel, in denen zwischen Sozialwohnungs-Hochhaus und Neureichen-Bungalow gerade mal hundert Meter lagen. Der Puffer dazwischen, das waren die Reihenhäuser der braven Mittelschicht – Büroangestellte und Facharbeiter, die unter der Hypothekenlast stöhnten und Überstunden kloppten.
All diese Menschen trafen sich im Freibad. Es war der einzige Ort, an dem Kleidung als Indikator für den gesellschaftlichen Status keine Rolle spielte. Wie auch. Man war ja fast nackt. Und welche Marke die Badehose hatte, interessierte keinen. Daheim im Neubauviertel mochte es einen Unterschied machen, ob das 55-PS-Auto, das man samstags auf Hochglanz wienerte, ein Mercedes 200 Diesel oder ein Opel Kadett war. Hier aber, auf der Liegewiese, die jeder nach Gutdünken okkupierte, vermischten sich – ohne dass es dazu einer Revolution bedurft hätte – Arm und Reich. So ließ das Freibad alle sozialen Unterschiede verschwimmen.
Auch kulinarisch. Wer hungrig ist (und Schwimmen macht hungrig!), braucht keine Haute Cuisine, sondern Fett. Pures Fett. Es gab keinen Ort auf der Welt, an dem Pommes mit Mayo so gut schmeckten wie im Freibad – selbst wenn das Frittieröl seit Tagen nicht gewechselt worden war.
Doch auch jenseits vom Imbissstand bekam jeder sein Fett ab, der sich der archaischen Hackordnung des Freibads verweigerte. Auf dem Sprungturm zählte nicht, ob man im Hochhaus oder Bungalow wohnte, sondern ob man sich traute, vom Zehner zu springen. Und das Recht des Stärkeren gründete nicht auf Geld und beruflicher oder politischer Macht, sondern darauf, ob man beim Tunken die kräftigeren Arme hatte. Nur hier, im überfüllten Nichtschwimmerbecken, konnte es passieren, dass selbst verwöhnte Neureichen-Blagen untergingen.
Das war natürlich grausam, denn »Kinder können grausam sein« (»Johnny Blue«, Lena Valaitis), aber irgendwo auch gerecht und pädagogisch wertvoll. Der große Gleichmacher namens Freibad stärkte den Glauben daran, dass im Leben alles möglich sein würde.
Das Happy End hat dann doch nicht für alle gereicht. Aber ist es nicht beruhigend zu wissen, dass es einen Ort gibt, an dem die klassenlose, pardon, schichtenlose Gesellschaft verwirklicht ist?
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