Der Gestank des Sommers

Notizen aus Venedig (1): Die venezianische Müll- und Fäkalienentsorgung ist strikt geregelt, doch die Bewohner sind erfinderisch.

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Mitte Juli streift mich die Ahnung des kommenden Winters. Davor schnell noch mal schwüle Hitze auftanken, wie es sie nur in Venedig gibt. Also studiere ich kurzentschlossen die Homepage meines Wohnungsanbieters in Venedig. So kurzfristig gibt es bloß noch zwei halbwegs passende Unterkünfte. Eine sogar mit Terrasse! Nein, man wolle offen sein: Diese Wohnung sei im Moment nicht zu empfehlen, im Haus gegenüber befinde sich eine Baustelle. So viel Ehrlichkeit macht mich ganz wehrlos, darum nehme ich ohne lange zu überlegen die letzte noch übriggebliebene.

Ganz in der Nähe befindet sich eine andere Wohnung, die ich kenne. Sie gehört einer Pianistin, ist mit einem Klavier und unzähligen Büchern gefüllt, die mit einer so dicken Staubschicht bedeckt sind, als wäre hier eine Ladung Kohlen abgekippt worden. Diese Wohnung zieht immer Halbverrückte an (auch ich war schon da) und einmal hatte eine amerikanische Mieterin, die den europäischen Banken nicht traute, sehr viel Bargeld mitgebracht, das sie – scheinweise – in den vielen sich haufenweise stapelnden Büchern versteckte. Aber es war wie beim Ostereiersuchen, am Ende fand sie nicht mehr alles wieder. Bis heute ist die Wohnung sehr beliebt.

Früher, vor gar nicht langer Zeit, stieg ich in Berlin-Schönefeld in den Billigflieger ein und eine Stunde später am Flughafen Venezia Marco Polo wieder aus. Vorbei, es gibt kaum noch Flüge und wenn doch, kollabiert vielleicht der BER. Aber man kann in Berlin morgens in den Zug steigen und abends in Venedig am Bahnhof Santa Lucia wieder aus.

Früher nahm mich hier meist Jürgen in Empfang. Jürgen war Hamburger und von einer lässigen, geradezu dandyhaften Eleganz. Leider könne er nicht beim Gepäcktragen helfen, sagte er jedes Mal zur Begrüßung, während ich mit Koffer und Computertasche beladen die Treppe hinauf ächzte. Es klang wie eine bloß der Vollständigkeit angemerkte Selbstverständlichkeit. Umso ausführlicher hielt er dann seine alljährlichen Belehrungen über die Müllentsorgung in Venedig ab, nicht ohne den Hinweis, dass kürzlich in dieser Hinsicht unaufmerksame Gäste die ganze Härte der venezianischen Ordnungsmacht zu spüren bekommen hatten und mehrere Hundert Euro Strafe zahlen mussten. Statt morgens zwischen sechs und acht ihren Abfall zum Müllboot zu bringen, das in irgendeinem Kanal ankerte, hätten sie ihn einfach am Abend zuvor vor die Tür gestellt. So war es früher hier allgemein üblich, ist aber inzwischen streng verboten. Jürgen sah mich an diesem Punkt seines Vortrags jedes Mal forschend an wie einen notorischen Verdachtsfall.

Leider ist Jürgen im vergangenen Jahr gestorben. Jetzt erst habe ich erfahren, dass er um 1980 Schlagzeuger der Hamburger Band Geisterfahrer war, die damals auf dem Sprung war, berühmt zu werden. Doch dann kam die Neue Deutsche Welle und der Anarcho-Sound der Geisterfahrer war nicht mehr gefragt. Er passte in die Lagunenstadt, die von der Atmosphäre ihres einstigen Glanzes lebt.

Der Platz ist wirklich klein und wirkt auf den ersten Blick ruhig. Parterre wohnen zwei junge Frauen, die vor ihrer Tür ein Gestell stehen haben, auf dem dann abwechselnd Blumentöpfe mit vertrocknetem Inhalt und erstaunlich viele leere Schnapsflaschen stehen, auch Müll anderer Art. An der Tür hängen zwei Namensschilder aus Holz mit eingebrannten Namen. Irgendwie scheinen beide hier einen Ausnahmestatus zu genießen, vielleicht sind sie gebürtige Venezianerinnen? Aber das ist der in Berlin bekannte Bühnenbildner Ezio Toffolutti auch und der hat es hier eher schwer, obwohl (oder weil) er seine Sätze, etwa in Cafés, wo man ihn meist für einen Touristen hält, gern mit einem wütenden »Io proffessore Toffolutti!« beginnt.

Die Schnapsflaschen zeugen von viel Besuch, der aber erst mitten in der Nacht kommt, dann verwandelt sich der kleine Platz in eine Art informeller Diskothek. Und das unter meinem Schlafzimmerfenster! Kurz überlege ich, das Fenster zu schließen und die Klimaanlage zu starten, aber das erscheint mir dann doch zu schnöde. Um in einer künstlich klimatisierten Weltkapsel zu existieren, muss ich nicht hierherkommen. Also Lärm, Schweiß und Mücken – und immer an den kommenden Winter denken! Eines Morgens ist unten das zweite Namensschild plötzlich weg, es herrscht kurzzeitig sogar verdächtige Ruhe. Und ich komme mir vor wie James Stewart in Alfred Hitchcocks »Das Fenster zum Hof!«. Gibt es hier etwas Verbotenes aufzuklären?

Zur anderen Seite hin, zum Kanal, auf jeden Fall. Plötzlich verstehe ich Peter Sloterdijk besser, der in seinem kryptischen »Sphären«-Werk (im zweiten Teil »Blasen«) schreibt, die ersten europäischen Städte wie Venedig seien »besiedelte Kloaken« gewesen. Das Sesshaftwerden der Menschen bedeutete auch, dass sie ihre Ausscheidungen nicht mehr einfach zurücklassen konnten. Ein völlig neues Problemfeld tat sich auf. Über diese frühen Vergesellschaftungsprozesse kann man auch in dem Buch »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit« von David Wengrow und David Graeber lesen. Graeber starb im Sommer vor zwei Jahren während einer Reise in Venedig.

Venedig war immer schon berüchtigt für seinen infamen Latrinengeruch. Das sollte inzwischen vorbei sein, könnte man denken – Frischwasser kommt aus dem Umland, es gibt eine Kanalisation, die Cholera ist Geschichte – und dennoch dringt mindestens alle halbe Stunde ein Schwall üblen Geruchs in meine Küche. Auch das ist Venedig. Da, wo ich vor einigen Jahren wohnte, pumpte jemand auf der anderen Gassenseite seine Toilette jede Nacht Punkt zwei Uhr über das Fallrohr der Regenrinne aus. Man ist hier eben erfinderisch, wenn es darum geht, schlechte Gewohnheiten zu verteidigen.

Schnell habe ich den Ausfluss entdeckt, der aus der Wand nebenan kommt, knapp über der Wasseroberfläche. Daher rührt also das Übel. Aber das scheint keinen zu stören, man muss eben die Fenster schließen. Auffällig große karpfenähnliche Fische kreisen ums Rohr. Frisch geangelt landen sie dann wahrscheinlich in einem der hiesigen Fischrestaurants auf dem Teller.

Gunnar Deckers Venedig-Kolumnen aus den letzten Jahren sind unter dem Titel »Venedig für Skeptiker« mit Illustrationen von Dieter Goltzsche im Quartus-Verlag erschienen.

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