Krank und trotzdem zur Arbeit

Das Phänomen des Präsentismus birgt Risiken für Beschäftigte und Unternehmen

  • Marco Krefting
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit positivem Coronatest ist die Sache ganz klar: Das Büro bleibt tabu. Was aber, wenn Kopfschmerzen plagen oder gar eine depressive Phase beginnt? Viele Menschen schleppen sich dann doch zur Arbeit. Präsentismus nennt sich das Phänomen – und weder den kranken Arbeitnehmern noch den Arbeitgebern ist damit laut Experten geholfen. Inzwischen entwickelt sich auch ein Markt mit digitalen Angeboten, insbesondere für die mentale Gesundheit.

Jeder zweite Beschäftigte (51 Prozent) in Deutschland geht manchmal, häufig oder sehr häufig krank zur Arbeit, wie das Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung aus Konstanz für die Techniker-Krankenkasse herausfand. Frauen neigen der Studie zufolge eher zu Präsentismus als ihre männlichen Kollegen.

»Betriebswirtschaftlich gesehen sind die Kosten, die durch Präsentismus entstehen, mindestens so hoch wie die Kosten durch krankheitsbedingte Fehlzeiten«, heißt es bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Nach Einschätzung des Psychologen Simon Hahnzog könnte der Anteil sogar noch größer sein. Die Kosten, die Unternehmen durch Präsentismus entstehen, seien etwa doppelt so hoch wie durch tatsächlich oder angeblich kranke Arbeitnehmer zusammen. Viele Firmen hätten aber mehr Sorgen wegen Blaumachern und steckten mehr Energie und Geld in den Kampf gegen diesen Absentismus.

Doch wer krank arbeite, sei nur eingeschränkt leistungsfähig, macht Hahnzog deutlich: »Ich bin acht Stunden da, arbeite effektiv aber nur fünf.« Auch passierten Kranken häufiger Fehler, was wiederum zu Folgekosten führe: »Das ist ein Lawineneffekt«, sagt Hahnzog, der auch Firmen zu dem Thema berät. »Wenn einer einen Fehler macht, müssen unter Umständen zehn andere eine Stunde mehr arbeiten.« Auch passierten signifikant mehr Unfälle, wenn man krank zur Arbeit gehe. Und dauerhafter, regelmäßiger Präsentismus erhöhe das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Störungen.

Die Zahl der Fehltage vor allem wegen psychischer Erkrankungen steige seit Jahren, sagt Simon Senner, Chefarzt im Zentrum für Psychiatrie in Reichenau bei Konstanz. Am Anfang der Pandemie sei dieser Trend gestoppt worden. »Wahrscheinlich haben Existenzängste dazu geführt, dass sich mehr Menschen zur Arbeit geschleppt haben.« Spätestens seit Herbst 2020 gehe die Zahl der Fehltage wieder hoch. Im ersten Halbjahr 2022 gab es nun deutlich mehr Krankschreibungen im Job als vor einem Jahr, wie die Krankenkasse DAK ermittelte. Das lag vor allem an vielen Atemwegserkrankungen, aber auch an Ausfällen durch Covid-19.

Hahnzog geht davon aus, dass die Entwicklungen infolge der Pandemie den Trend aber verschärfen: »Im Homeoffice ist die Schwelle viel kleiner geworden, doch zu arbeiten. So richtig krank bin ich ja nicht, da kann ich mich kurz in einen Zoom-Call schalten.« Die Erholungszeit zu Hause werde verringert. Arbeitnehmer seien noch mal mehr der Eigenverantwortung überlassen worden, sagt Hahnzog. Führungskräfte wiederum hätten den Gesundheitszustand der Mitarbeitenden im Homeoffice weniger gut im Blick.

Nach dem Arbeitsschutzgesetz sind Arbeitgeber verpflichtet, eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, wie Senner betont. Nach seiner Einschätzung hat das aber nur die Hälfte gemacht. Während bei körperlichen Gefahren relativ einfach meist technische Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden könnten, sei das bei psychischen Belastungen schwieriger. Führungskräfte könnten aber lernen, wie sie mögliche psychische Störungen erkennen und wie sie dann Mitarbeitende adäquat darauf ansprechen und Unterstützung anbieten können.

Dem Trend folgend gibt es inzwischen viele App-Angebote für Menschen mit psychischen Belastungen, sagt Senner, der auch Mitglied im medizinischen Beirat von Wellster ist, einem Anbieter für digitale Gesundheitsplattformen. Ein Beispiel ist das 2021 gegründete Start-up Heyvie aus Karlsruhe, das Menschen mit Migräne helfen will. Ein paar Übungen gibt es kostenlos in einer neuen App. Je nach gewünschtem Umfang und Anwendung ist ein vierwöchiges Programm für 19,99 Euro oder ein personalisiertes Training ab 125 Euro die Stunde möglich. Die Verbraucherzentrale weist darauf hin, dass es für die Gesundheits-Apps keine einheitlichen Qualitätskriterien gebe. »Die meisten Apps in diesem schnelllebigen Markt sind zudem nicht wissenschaftlich auf ihren Nutzen hin untersucht.« So könne es hilfreiche Apps geben – aber auch solche, die schlimmstenfalls etwa wegen falscher Messungen Schaden anrichten können. Ratsam sei, das Thema mit dem Hausarzt zu besprechen. dpa/nd

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