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  • Bürgerhaushalt in Leipzig

Der Etat als Wunschkonzert

In Leipzig gibt es erstmals einen Bürgerhaushalt / »Europameister« Stuttgart als Vorbild

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf der Wunschliste stehen öffentliche Toiletten in einem Park und der Austausch abgestorbener Bäume in einem Stadtteil von Leipzig, aber auch kostengünstiger Nahverkehr und bezahlbarer Wohnraum: Für den ersten Bürgerhaushalt der sächsischen Großstadt wurden 300 Vorschläge eingereicht. An diesem Montag befasst sich der Finanzausschuss des Stadtrates mit den Ideen. Danach wird entschieden, welche Anregungen es in den Doppelhaushalt 2023/24 schaffen, der im Februar beschlossen werden soll.

Für Leipzig ist der Bürgerhaushalt eine Premiere. Erste Vorstöße gab es durch die damalige PDS-Fraktion bereits 2003, sagt Steffen Wehmann, der Finanzexperte der Linken. Beschlossen wurde ein entsprechender Antrag erst 2019. Damit soll eine stärkere Beteiligung der Bürger an der kommunalen Politik ermöglicht werden. »Unser Ziel ist mehr direkte Demokratie«, sagt Wehmann. In einem Papier aus der Fraktion heißt es, »in Zeiten einer wachsenden Politikverdrossenheit« erachte man den Bürgerhaushalt als »Signal an die Stadtgesellschaft, dass ihr aktives Mitwirken unverzichtbar ist«.

Bürgerhaushalte gibt es in der Bundesrepublik seit Ende der 1990er Jahre. Nach Angaben des »Netzwerkes Bürgerhaushalte« wurden unterschiedliche Varianten zuletzt in 78 deutschen Kommunen praktiziert – was allerdings nur ein Bruchteil der insgesamt 3400 Städte ist. Dass es sich um kein ganz triviales und automatisch erfolgreiches Verfahren handelt, belegt auch der Umstand, dass 153 Städte und Gemeinden es wieder einstellten. Generell scheinen Bürgerhaushalte in kleinen und mittelgroßen Städten besser zu funktionieren. Dort werden sie schneller zum Stadtgespräch, und es gelingt teilweise, ein Viertel der Bewohner einzubeziehen. In Großstädten sind die Hürden höher, aber nicht unüberwindbar. Stuttgart, das über 600 000 Einwohner zählt und wo es seit 2011 einen Bürgerhaushalt gibt, kommt auf Beteiligungsquoten von über neun Prozent, was nach Angaben des Netzwerks ein internationaler Spitzenwert ist.

Leipzig orientiert sich an dem im annähernd gleich großen Stuttgart praktizierten Modell, hat es aber leicht abgewandelt. Prinzipiell kann jeder Bürger Vorschläge einreichen; es gibt keine Altersgrenze nach unten. Gefragt seien Ideen, durch die ein »Mehrwert für die gesamte Stadtgesellschaft« entsteht: in sozialer, kultureller oder ökologischer Hinsicht. Gefragt sind Vorschläge, deren Umsetzung mindestens 20 000 Euro kostet; für preiswertere Projekte gibt es Töpfe in den Stadtbezirken. Über die Liste der Vorschläge wird abgestimmt. In Stuttgart kann jeder Bürger mitwirken. In Leipzig wurden zunächst 1500 Einwohner zufällig und repräsentativ ausgewählt, die auf einer eigens erstellten Plattform im Internet ihre Stimme abgaben. Wehmann hofft, dass der Kreis bei den nächsten Bürgerhaushalten ausgeweitet werden kann.

Geplant war zudem eine Bürgerkonferenz, auf der ebenfalls über das Pro und Contra der Vorschläge debattiert werden sollte. Das Interesse blieb aber weit unter den Erwartungen; sie wurde abgesagt. Finanzbürgermeister Torsten Bonew (CDU) räumte ein, man müsse »vielleicht neue Ideen entwickeln«, um die Bürger »stärker zu motivieren«. Die Werbung in der Bevölkerung für die Beteiligung am Bürgerhaushalt gilt neben der technischen Abwicklung der Stimmabgabe als größte Herausforderung. Kommunen wie die brandenburgische Stadt Eberswalde inszenieren die Abstimmungen als Volksfest; Bürger können dort mit »Stimmtalern« über die Vorschläge abstimmen: »Jede Stimme hat Gewicht«, heißt es. Auffällig sei, dass sich bei derlei Formaten mehr jüngere und weibliche Einwohner beteiligen als etwa bei Bürgerversammlungen.

Die Ideen müssen freilich nicht nur populär sein, sondern auch rechtlich zulässig und finanziell umsetzbar. Globale Wünsche wie bezahlbares Wohnen sprengen offenkundig den Rahmen eines Bürgerhaushalts, auch wenn dieses ein »erklärtes Ziel der Stadt« sei, wie es in der Stellungnahme der Verwaltung heißt. Generell sei der Gradmesser für den Erfolg des Bürgerhaushalts aber, dass es eine nennenswerte Anzahl der Vorschläge tatsächlich in den Stadthaushalt schafft, sagt Wehmann: »Sonst sorgen wir für Enttäuschung.« Im Februar 2023 soll es eine erste Bewertung geben. Fällt sie positiv aus, könnten sich die Bürger schon einmal Gedanken machen, was sie 2024 auf die Wunschliste für den neuen Doppelhaushalt schreiben.

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