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Alles so schön grau hier
Vor 80 Jahren veröffentlichte Stefan Zweig »Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers «
Nur wenige Schüler mögen Geschichte. Zu viele Zahlen, zu viele Namen, die am Ende einerlei sind. Genau wie die Krisen, die zu Kriegen führen, die wiederum neue Krisen hervorrufen. Und dann das ewige Hin und Her aus Revolution und Restauration, das am Ende doch keine besseren Menschen hervorbringt. Das alles ist auf Dauer ermüdend, wie ein Actionfilm, in dem zwei Stunden nonstop geballert wird.
Wer sich davon nicht abschrecken lässt und Geschichte studiert, erlebt eine Enttäuschung anderer Art. Viele Wissenschaftler verlieren sich in ihren Quellen. In der Flut aus teils widersprüchlichen Details geht ihr Blick fürs Ganze verloren. Zudem sind die meisten Historiker lausige Stilisten. Angenehm lesbare Werke wie »Die Stabilisierungsmoderne« des viel zu früh verstorbenen Heinz Dieter Kittsteiner sind die Ausnahme. Professoren, die Geschichte erzählen, sind leider selten gute Geschichtenerzähler.
Da lohnt sich ein Blick über die Wissenschaft hinaus. Wer Historie jenseits von Faktenhuberei erkunden will, erfährt in der Literatur eine Menge über die jeweilige Zeit und ihren Geist oder Ungeist. Manchmal geschieht sogar der Glücksfall, dass ein Schriftsteller nicht die Fiktion, sondern die Fakten sprechen lässt. Der Literat wird zum Sachbuchautor. Und mit einem Mal löst sich trockene Geschichte in zahllose spannende Geschichten auf.
»Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers« ist solch ein Glücksfall. Als das Buch im Sommer 1942 in Schweden erscheint, ist sein Verfasser, der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig, bereits tot. Wenige Monate zuvor haben er und seine Frau den Freitod gewählt. Als Juden, denen nur die Flucht nach England und schließlich nach Brasilien geblieben war, hatten sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgegeben. Bereits im Vorwort konstatiert Zweig: »Wir haben den Katalog aller nur denkbaren Katastrophen durchgeackert von einem zum anderen Ende (und sind noch immer nicht beim letzten Blatt).« Er sollte recht behalten. Den Holocaust erlebte er nicht mehr.
Begonnen hatte Zweig mit seinen Erinnerungen 1939. Eine Autobiografie ist es nicht. »Ich habe meiner Person niemals so viel Wichtigkeit beigemessen, dass es mich verlockt hätte, anderen die Geschichte meines Lebens zu erzählen«, stellt er bereits im ersten Satz klar. Und an anderer Stelle betont er, er hätte gern von Gesprächen mit Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler und weiteren Literaten berichtet. Doch »heute erscheinen mir längst jene Männer meiner Jugend, die meinen Blick auf das Literarische hinlenkten, weniger wichtig als jene, die ihn weglenkten zur Wirklichkeit.«
Diese Wirklichkeit verlangte dem Autor einiges ab, vor allem Offenheit und Anpassungsfähigkeit. Geboren 1881 in Wien erlebte er noch die über 640 Jahre währende Habsburgermonarchie. Er wurde Zeuge, wie diese vertraute, sichere Welt mit dem Ersten Weltkrieg zusammenbrach. Wie der verlorene Krieg in der Inflation, in der Weltwirtschaftskrise, im Faschismus und schließlich im Zweiten Weltkrieg mündete. All das weiß man aus dem Geschichtsunterricht.
Was man nicht kennt, ist das Leben der kleinen Leute, die im Alltag mit den Folgen dieser Großereignisse irgendwie fertigwerden mussten. Das war nicht zwangsläufig mit Not und Elend verbunden. So kam die Nachkriegsinflation in Österreich deutschen Grenzbewohnern zupass: »Die biertrinkenden Bayern rechneten es sich am Kurszettel von Tag zu Tag aus, ob sie im Salzburgischen infolge der Entwertung der Krone fünf oder sechs oder zehn Liter Bier für denselben Preis trinken konnten, den sie zu Hause für einen einzigen Liter zahlen mussten. Eine herrlichere Lockerung war nicht zu erdenken, und so zogen mit Weibern und Kindern Scharen aus dem nachbarlichen Freilassing und Reichenhall herüber, um sich den Luxus zu leisten, so viel Bier in sich hineinzuschwemmen, als der Bauch nur fassen konnte.« Auch die Kriegsbegeisterung von 1914 weiß Stefan Zweig in plastischen Bildern zu vermitteln. Da gab es »Ärzte, die ihre Prothesen derart überschwänglich priesen, dass man beinahe Lust bekam, sich ein Bein amputieren zu lassen, um das gesunde durch solch ein künstliches Gestell zu ersetzen.«
In solchen Beschreibungen gelingt ihm das, woran Chronisten regelmäßig scheitern: den Geist einer Zeit offenzulegen. Denn während der Chronist auf die Weltpolitik stiert, auf jene Ereignisse, die es in die Geschichtsbücher schaffen, beobachtet Zweig seine unmittelbare Umgebung. »Nun sind im Leben immer die kleinen persönlichen Erlebnisse die überzeugendsten.« Bereits 1897 – Jahrzehnte vor der Machtergreifung Hitlers – wird er Augenzeuge, wie der »Einsatz einer rücksichtslosen, blind dreinschlagenden Sturmtruppe und damit das Prinzip, durch Terror einer kleinen Gruppe die zahlenmäßig weit überlegene, aber human-passivere Majorität einzuschüchtern«, zum Erfolg führt. »Kavallerie musste ausrücken, es wurde mit dem Säbel zugeschlagen und geschossen. Aber so groß war in jener tragisch schwachen und human liberalen Ära der Abscheu vor jedem gewalttätigen Tumult und jedem Blutvergießen, dass die Regierung vor dem deutschnationalen Terror zurückwich.«
Doch die langfristigen Folgen sieht Zweig seinerzeit noch nicht. Die Erfahrungen ziehen keine Erkenntnisse nach sich: »Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat. (…) Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme. (…) Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte.«
Hier zeigt sich ein Muster, das prägend für Stefan Zweigs Leben sein sollte. Der Prototyp eines feinsinnigen Bildungsbürgers, der für teures Geld Originalschriftstücke von Mozart, Goethe und Co erwirbt, wird immer wieder von der Wirklichkeit eingeholt. »Aufgewühlt (…) von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde« muss er feststellen, »als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist jeweils just dort gestanden zu sein, wo diese Erdstöße am heftigsten sich auswirkten.«
Diese Passivität unterscheidet ihn von jenen Schriftstellern, die politisch wirken möchten. Während ein Bertolt Brecht mit seinen Werken die Welt verändern will, ist Stefan Zweig genug damit beschäftigt, die veränderte Welt zu verkraften. Als überzeugter vielsprachiger Europäer, der unter anderem mit Künstlern aus Frankreich, Belgien und Italien befreundet ist, leidet er darunter, dass selbst Schriftstellerkollegen wie die von ihm verehrten Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke 1914 ins Kriegsgeheul mit einstimmen. In einem gesellschaftlichen Klima der Raserei, von der sich selbst ein Thomas Mann anstecken lässt (»Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung«), muss er in die neutrale Schweiz überwechseln, um pazifistische Gesinnungsgenossen zu treffen.
Bei einem Besuch in der noch jungen Sowjetunion steckt ihm ein Dissident heimlich einen Brief zu, in dem es heißt: »Erinnern Sie sich, dass die Menschen, die mit Ihnen sprechen, meistens nicht das sagen, was sie Ihnen sagen wollen, sondern nur, was sie Ihnen sagen dürfen. Wir sind alle überwacht und Sie selbst nicht minder. Ihre Dolmetscherin meldet jedes Wort, Ihr Telefon ist abgehört.« Zweig gerät ins Grübeln: »War es nicht wirklich Tatsache, dass ich inmitten dieser ehrlichen Herzlichkeit, dieser wunderbaren Kameradschaftlichkeit eigentlich nicht ein einziges Mal Gelegenheit gehabt hatte, unbefangen mit jemandem unter vier Augen zu sprechen?«
Zweig ist ein zu guter Beobachter, um für Ideologien irgendeiner Art anfällig zu sein. In den Schikanen des Alltags erkennt er die »Epidemie unseres Jahrhunderts (…): den Fremdenhass oder zumindest die Fremdenangst«. Traurig konstatiert er: »Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte, und blieb, solange er wollte. (…) Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. (…) All die Erniedrigungen, die man früher ausschließlich für Verbrecher erfunden hatte, werden jetzt vor und während einer Reise jedem Reisenden auferlegt.«
In die »Früher war alles besser«-Falle tappt er dennoch nicht. In den kurzweiligsten Passagen dieses durchweg unterhaltsamen Buches beschreibt Zweig die sexuelle Verkorkstheit im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Süffisant legt er in dem Kapitel »Eros Matutinus« die Doppelmoral seiner Mitmenschen dar, die sich im Theater über den entblößten Knöchel einer Tänzerin empören und zugleich über die ausufernde, allgegenwärtige Prostitution hinwegsehen. Danach versteht man, warum er Sigmund Freud als Befreier feiert.
Doch ist Freiheit für Zweig – leider, leider! – ein Nullsummenspiel. Die Freiheit, die man auf der einen Seite gewinnt, geht auf der anderen wieder verloren. Die Frauen mögen ihr Korsett, die Männer ihren »Vatermörder« (steifen Stehkragen) ablegen, aber an deren Stelle treten andere Zwänge und Einschränkungen. Genau in dieser Differenziertheit und Relativierung liegt der Erkenntnisgewinn der »Erinnerungen eines Europäers«. Die verschiedenen Welten von Gestern, die Zweig beschreibt, sind weder weiß noch schwarz, sondern im besten Fall hell- und im schlimmsten Fall dunkelgrau. Also die passende Lektüre für unser Jahrzehnt. In einer Zeit, in der Extremisten, Fundamentalisten und Eiferer wieder zunehmend Gehör finden, tut es gut, den Beobachtungen und Einsichten eines Menschen zu folgen, der die Welt darstellte, wie sie war – und nicht, wie sie gefälligst zu sein hatte.
Stefan Zweig: »Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers«. S. Fischer Verlag,
704 S., geb., 16 €.
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