Aufgeklärte Perverse

Die slowenische Philosophin Alenka Zupančič beschäftigt sich mit Antigone, Sexualität und Klasse – und träumt vom nichtautoritären Kommunismus

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 7 Min.
Alenka Zupančič platziert gesellschaftliche Phänomene des Kapitalismus auf Dr. Freuds Couch.
Alenka Zupančič platziert gesellschaftliche Phänomene des Kapitalismus auf Dr. Freuds Couch.

Sie wird entweder zur Heldin glorifiziert oder als Schurkin dargestellt. In Zeiten sozialer Veränderungen greifen Autor*innen und Künstler*innen auf Antigone zurück, um mit ihr über Staat und Familie, Repression und Widerstand nachzudenken. Die Aktivistin und Schauspielerin Kay Sara wird im Mai 2023 mit der antiken Figur für die Landlosenbewegung in Brasilien sprechen. In der kommenden Inszenierung von Milo Rau steht ihr Widerstand gegen den tyrannischen Kreon/Bolsonaro im Vordergrund. Damit befindet sich die Produktion in einer langen Tradition der Rückgriffe und Relektüren, wie sie Philosophen von Hegel bis Slavoj Žižek verfassten.

Warum schauen Philosoph*innen in Zeiten der Krise immer wieder auf Antigone? Das fragt sich auch Alenka Zupančič in ihrem im Januar erscheinenden Buch »Let Them Rot: Antigone’s Parallax« und bereitet die philosophischen und psychoanalytischen Interpretationsangebote der letzten Jahrhunderte auf. Dabei stellt sich der Konflikt zwischen Staat und Familie, Bösewicht und Heldin, den Kreon und Antigone aushandeln, nicht so einfach dar, wie es in manchen Deutungen scheinen mag. Besonders interessiert sich die slowenische Psychoanalytikerin und Philosophin für einen Irritationsmoment, der zeigt, dass die Tragödie nicht zu leicht verallgemeinert werden sollte. So sagt die Tochter des Ödipus zu König Kreon, ihrem Onkel, gegen dessen Rechtsspruch sie ihren Bruder begraben hatte: »Denn nimmer, wenn ich Mutter auch von Kindern war, / Noch wenn ein Gatte mir im Tod hinmoderte, / Nahm ich, der Stadt Trotz bietend, über mich die Tat.« Die große öffentliche Geste der Antigone ist keine universalistische. Ein Ehemann oder ihre Kinder wären ihr egal, würden sie unbestattet verrotten, nur der Bruder, von dem sie keinen weiteren haben kann, wiegt für sie schwer genug, um das eigene Leben zu opfern.

Auch »Die drei Leben der Antigone«, das dramatische Debüt ihres Kollegen und guten Freundes Slavoj Žižek, nimmt sie darin als zu vereinfachend auseinander. Die beiden slowenischen Philosoph*innen werden mit Mladen Dolar der »Ljubljana School of Psychoanalysis« zugerechnet, ein von außen gegebener Name, erzählt Zupančič lachend. Immer wieder kämen Menschen nach Slowenien und wollten vergeblich diese Schule besuchen, die so nicht existiere, berichtet sie in der LP Bar, die gleich neben der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste gelegen ist. Dort forscht die 1966 geborene Philosophin zur Verbindung von kontinentaler Philosophie und Psychoanalyse. Als sie an die Universität wechselte, hielt der 17 Jahre ältere Žižek bereits Vorträge zu der an Jacques Lacan und Sigmund Freud orientierten marxistischen Denkrichtung.

Zupančič sah darin die Möglichkeit, über klassische Philosophen nachzudenken, ohne sie als zu alt oder zu metaphysisch aufzugeben. »Im Gegensatz zum Dekonstruktivismus, wo es um die Abschaffung oder Dekonstruktion des Subjekts geht, sind wir interessiert daran, diese Kategorien nicht aufzugeben, weil sie zu einer metaphysischen Vergangenheit gehören, sondern zu fragen: Was ist heute noch interessant oder subversiv daran?«, fasst sie ihren psychoanalytischen Zugriff. Ähnlich wie Louis Althusser, der nicht auf der Suche nach Authentizität, sondern nach Brüchen zu Marx zurückkehrte, sucht die slowenische Philosophin nach Diskontinuitäten und Extremen. Auf diese Weise näherte sie sich der Moralphilosophie Kants, die sie in den Büchern »Das Reale einer Illusion« und »Ethik des Realen. Kant, Lacan« untersucht. Wie in ihren anderen Publikationen verweist sie auf Literatur und Popkultur und zeigt ein aus der Gegenwart begründetes Interesse am Sujet.

In ihrem Feld gilt, was der französische Marxist in seinem Essay »Über Marx und Freud« beschrieb: Was die beiden Begründer einer Wissenschaft verbinde, sei das Bewusstsein, dass sie Teil des Konflikts sind, den sie bearbeiten. Weder in der Psychoanalyse noch im historischen Materialismus kann ein neutraler Standpunkt eingenommen werden. Neutralität behauptet nur die herrschende Ideologie für sich. Die marxistischen und psychoanalytischen Theoretiker*innen müssen parteiisch sein, um Antagonismen benennen zu können. Gleichzeitig können sie von ihrem Punkt nur einen Teil der überdeterminierten Konflikte überblicken und beschreiben.

In ihrer zuletzt in Deutschland erschienenen Publikation betrachtet Zupančič Psychoanalyse und Ontologie vom Standpunkt der Sexualität aus. Lacan interessierte sich nicht für Fragen nach Werden und Beschaffenheit des Seienden, weil er Essentialismus mit seiner Disziplin für unvereinbar hielt. Diesem Grundsatz widerspricht sie in ihrem Buch »Was ist Sex?« nicht, aber beim genaueren Blick auf Lacans berühmt gewordene Sentenz »Il n’y a pas de rapport sexuel« wird es kompliziert. In der Relektüre des Satzes, der als »Es gibt keinen Geschlechtsverkehr« und als »Es gibt kein sexuelles Verhältnis« übersetzt werden kann, markiert sie die darin ausgesprochene Lücke in der Signifikantenkette. Das Verhältnis ist nicht symbolisiert, es zeichnet sich durch eine Leerstelle aus. So ist auch bei Kindern zu beobachten, dass Sexualität als kulturell kodifizierte erst von außen an sie herangetragen wird. Es gibt keine essenzielle, vorgängige Sexualität. Sie nimmt sehr unterschiedliche Erscheinungsformen an, aber eben jene Divergenz sei das ontologische Moment.

Ausgehend vom sexuellen Nicht-Verhältnis betrachtet Zupančič das soziale Äquivalent im Kapitalismus. Im Produktionsprozess findet sich wie in der symbolischen Ordnung ein negativer Signifikant. Die Arbeiter*innen veräußern ihre Ware Arbeitskraft, die im Verbrauch Mehrwert produziert, aber sie fallen aus dem ökonomischen Verhältnis selbst heraus. Die Klasse, die keine Klasse ist, bildet den Ort einer konstitutiven Negativität. Diese Lücke wird durch Ideologien wie die von der »unsichtbaren Hand des Marktes« verdunkelt.

Was also tun, um den Antagonismus aufzuheben? Zupančič geht davon aus, dass Widersprüche konstitutionell zu menschlichen Beziehungen gehören. Soziale Verhältnisse sind nie vollständig begreif- oder kontrollierbar. Es bleiben versteckte Brüche im sozialen Gefüge, die nicht symbolisiert werden. Zu einem emanzipatorischen Kampf gehört es, diese zu benennen. In ihrer Vorstellung vom Kommunismus, kann die Nicht-Beziehung nicht einfach abgeschafft werden. Sie fragt sich, wie die Negativität, die zum gesellschaftlichen Verhältnis gehört, als Überschuss erhalten werden kann, ohne auszubeuten. Ihr gefällt die Idee der Organisation in commons, die nicht nur auf Spontaneität beruhen können – die unsichtbare Hand in der Linken –, sondern soziale Regulierung brauchen. Hier könnte ein Mehr-Genießen aus geteilter Kreativität entspringen, führt sie aus.

»Was könnte ein nichtautoritärer Kommunismus sein, den wir gerne hätten? Wer wäre der gesellschaftliche Akteur, der ihn in die Tat umsetzen wird? Es gibt keine globale Bewegung, die das tun wird«, sagt Zupančič, der es schwer fällt, optimistisch zu sein, wenn sie auf den Umgang mit der Klimakrise oder mit der Pandemie blickt.

In der Bewegung für Klimagerechtigkeit gebe es zwar Ideen, Umwelt- mit Klassenfragen zusammenzudenken, aber es dominiere der gesellschaftliche Mechanismus der Verleugnung, den sie derzeit erforscht. Die meisten Menschen würden zwar sagen: »Ich weiß, dass der Klimawandel ein riesiges Problem ist und dass wir etwas tun müssen.« Das habe jedoch keine Auswirkungen auf ihre Handlungen. Interessant ist, dass das Wissen um den Klimawandel oder Übertragungswege von Infektionen nicht einfach verworfen wird, als wäre es unbekannt. Es findet Eingang in die symbolische Ordnung. Eine emotionale Übersetzung, die Leidensdruck verursachen würde, bleibt jedoch aus. Die Struktur lässt sich mit einer Geschichte über den Fetisch von ihrem Kollegen Žižek veranschaulichen: Ein kürzlich verwitweter Mann kann ruhig und rational über den Tod seiner Frau reden, ohne eine psychische Krise zu erleben. Immer wenn er über sie spricht, sitzt ein Hamster auf seinem Schoss, den er streichelt. Erst als der Hamster stirbt, bricht der Witwer zusammen. Er war der Fetisch – der ist nicht auf Schuhe, Unterwäsche oder andere Objekte des Begehrens beschränkt –, der die emotionale Anerkennung verhinderte. Diesem Schema entsprechend handelt es sich bei der Wissensbekundung um den Fetisch, der uns von der kollektiven Handlung abhält.

Manchen Kritikern sei der Film »Don’t Look Up« zu lächerlich gewesen, sagt Zupančič. Sie habe darin eine treffende Verarbeitung der Verleugnung gesehen, in all ihrer Absurdität. Obwohl darin ein Komet auf die Erde zurast und eine Wissenschaftlerin davor warnt, reagiert die Präsidentin kaum. Es entstehen Verschwörungstheorien und eine träge, wissende Masse, die nicht zum Aufstand bewegt werden kann. Der Film porträtiert eine postrevolutionäre und postheroische Zeit – weder Kollektiv noch Superheld zerstört die Bedrohung. So lächerlich der Film erscheinen möge, er zeige genau die politische Atmosphäre, in der wir uns gerade befänden, meint Zupančič. Nachrichten über den Klimawandel beschäftigten uns auf gleicher Ebene wie das Neueste von den Kardashians. Diese Äquivalenz sei verheerend. Es sei schwer, die Verleugnung durchzuarbeiten, legt sie dar, denn die perverse Struktur erleichtere das Leben. »Wir würden lieber sterben, als uns zu Tode zu fürchten.«

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