Kleine Platte, großer Stein

Junge Menschen wollen eine neue namibisch-deutsche Erinnerungskultur

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 5 Min.
Unverhältnismäßig: Museumsdirektor Matthias Henkel und die Schüler*innen im Gespräch über die Denkmäler
Unverhältnismäßig: Museumsdirektor Matthias Henkel und die Schüler*innen im Gespräch über die Denkmäler

Auf dem Garnisonsfriedhof am Columbiadamm in Neukölln stehen viele alte Denkmäler und Statuen zwischen den Gräbern. In einer abgelegenen Ecke im östlichen Teil des Friedhofs befinden sich zwei von ihnen in einer fragwürdigen Konstellation: ein großer Granitstein zu Ehren sieben gefallener deutscher Soldaten während der Kolonialherrschaft Deutschlands in Namibia, und daneben am Boden eine deutlich kleinere Gedenkplatte für die Opfer dieser Kolonialherrschaft. In einem gemeinsamen Projekt mit dem Museum Neukölln nehmen Schüler*innen aus Berlin und der namibischen Hauptstadt Windhoek die umstrittenen Mahnmale zum Anlass, um ein gemeinsames namibisch-deutsches Gedenken an die Verbrechen der Kolonialzeit und den Völkermord an den Herero und Nama zu erarbeiten. Den Zwischenstand stellten die 16- bis 17-Jährigen mit Museumsdirektor Matthias Henkel am vergangenen Sonntag zum Tag des offenen Denkmals gemeinsam vor.

»Das Verhältnis zwischen den beiden Denkmälern passt nicht. Da ist so ein großer Stein für sieben Menschen und diese kleine Platte am Boden für Tausende«, sagt Felix während der Vorstellung des Projekts. Er ist einer der Schüler*innen des Neuköllner Albert-Einstein-Gymnasiums und Teil der dort seit zehn Jahren existierenden Namibia-Arbeitsgruppe, die das Projekt initiiert hat. Zusammen mit seinen Mitschüler*innen ist er für zwei Wochen nach Namibia gereist, um sich vor Ort mit den Schüler*innen der Hage G. Geingob High-School in Windhoek über das Erinnern an die deutsche Kolonialzeit und den Umgang mit der gemeinsamen Geschichte auszutauschen.

Von 1884 bis 1915 herrschte das Deutsche Kaiserreich als Kolonialmacht im heutigen Namibia, damals Deutsch-Südwestafrika. Die Aufstände der Herero und Nama wurden zwischen 1904 und 1908 brutal von den deutschen Soldaten niedergeschlagen und dabei schätzungsweise 90 000 Menschen ermordet. Erst 2021 erkannte die Bundesrepublik Deutschland die Verbrechen als Völkermord an. Der Gedenkstein an die deutschen Soldaten wurde noch während der Kolonialzeit auf dem Gelände einer Berliner Kaserne durch Offiziere aufgestellt und 1973 auf den Columbiafriedhof umgesiedelt. Nach heftigen Kontroversen um den sogenannten Herero-Stein und die mangelnde Erinnerung an die deutschen Kolonialverbrechen fügten die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung und das Bezirksamt schließlich die Gedenkplatte für die Opfer hinzu.

»Die Schüler*innen in Namibia wirkten weniger betroffenen von den schrecklichen Bildern aus der Kolonialzeit als wir selbst. Für sie war das vielmehr Normalität«, sagt Schülerin Valentina. Sie hält es für falsch, wenn Deutsche den Namibier*innen Ratschläge geben, wie sie mit der Kolonialgeschichte umgehen sollten. »Wir müssen von den Menschen in Namibia lernen, wie sie damit umgehen. Deshalb sind wir hingefahren«, erklärt sie. Besonders sei ihr aufgefallen, dass sie in ihrer Zeit in Windhoek keine Gedenkorte an die Opfer aus dieser Zeit gesehen habe, sondern stattdessen einige sehr große Statuen von bekannten namibischen Freiheitskämpfern. »Es sind eher positive Denkmäler zur Ehrung der Kämpfer«, erzählt Valentina.

In dem Projekt gehe es um eine gemeinsame Kommunikation auf Augenhöhe zu finden, denn genau das fehle bisher. »Das Ziel ist nicht, dass wir alle Details der Kolonialgeschichte zusammen durcharbeiten, sondern jetzt einen gemeinsamen Umgang zu erarbeiten. Dafür haben wir einen ersten Schritt getan«, sagt Valentina. Der nächste Schritt ist der anstehende Besuch der namibischen Schüler*innen in Berlin Ende September. Die Schüler*innen wollen gemeinsam mit einem Fachhistoriker und einer Künstlerin Ideen finden, wie weiter mit den Denkmälern umzugehen sei. Ob zum Beispiel ein drittes Element auf dem Garnisonsfriedhof hinzugefügt, ein Denkmal an einem anderen Ort in Berlin aufgestellt oder das Gedenken in einer ganz anderen Form ermöglicht werde, sei bisher noch vollkommen offen.

Es komme auch gar nicht auf die Größe des Denkmals an, sondern auf das Wissen über die Kolonialverbrechen in der deutschen Gesellschaft, so Valentina. »Selbst wenn wir ein riesiges Monument direkt neben das Brandenburger Tor stellen, bringt das nichts, solange die Menschen gar nicht wissen, was passiert ist«, erklärt die Schülerin. Sie selbst habe erst in der Namibia-Arbeitsgruppe von Kolonialherrschaft und Völkermord an den Herero und Nama erfahren. Im Geschichtslehrplan hingegen fehle das. »Es ist nicht die Schuld von jungen Leuten wie uns, wenn wir das nicht wissen. Wir müssen das in der Schule gelehrt bekommen«, findet Valentina. Es hätten sogar einige Schüler*innen einen Brief an den Bezirk geschrieben und gefordert, die deutsche Kolonialherrschaft in den Lehrplan aufzunehmen, darauf habe es aber nie eine Antwort gegeben, berichtet sie.

Matthias Henkel, Direktor des Museums Neukölln und Leiter des Fachbereichs Museum, Stadtgeschichte und Erinnerungskultur, findet das Projekt mit den Schüler*innen sehr wichtig, um ein adäquates Gedenken aufzubauen. »Im heutigen Namibia gibt es weiterhin eine starke Verankerung der kolonialen Strukturen, wir stecken noch immer im Kolonialismus. Deshalb ist es unser Versuch, mit dem Projekt zu dekolonisieren«, sagt er. Die Rolle des Museums sei es dabei, den Schüler*innen fachliche Expertise an die Hand zu geben, mit dem Ziel, »im binationalen Dialog gemeinsam zu lernen und diesen auf der Ebene der Jugend in Gang zu setzen«, so Henkel zu »nd«.

Eine Herausforderung für den Austausch zwischen den Schüler*innen aus Berlin und Windhoek bestehe bisher vor allem in der Finanzierung des Ganzen. Der Senat übernehme zwar einen Teil, aber es mussten auch andere Mittel organisiert werden. Die Schüler*innen haben sogar mit einem Kuchenverkauf Geld eingetrieben, erzählen Eltern. »Wir können so ein Projekt schon auf die Beine stellen, aber wir brauchen dafür die nötigen finanziellen Mittel und wir brauchen auch Unterstützung dabei, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken«, fordert Valentina.

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