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Die slawischen Brüder
Erhard Crome über Putins Krieg gegen die Ukraine
Dieses Buch könnte nicht aktueller sein. Die Eilmeldungen überstürzen sich dieser Tage: Noch in dieser Woche wollen die Volksrepubliken Donezk und Luhansk ein Referendum über den Anschluss an Russland abhalten. Und der russische Präsident verkündete die Teilmobilmachung. Eine neue Drehung der Spirale in einer Konfrontation, die eine friedliche Lösung noch unmöglicher machen?
Das Buchcover zeigt die Statue »Mutter Heimat«, über hundert Meter hoch, errichtet zum Gedenken an den Sieg der sowjetischen Streitkräfte im Großen Vaterländischen Krieg, eingeweiht am 9. Mai 1981 durch den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breshnew. Das imposante Monument steht nicht irgendwo in Russland, sondern am Ufer des Dnepr in Kiew. In diesem Symbol offenbart sich die Tragik von einst und von heute, es ist gleichsam der in Stahl gegossene Irrsinn des Imperialismus. Möglicherweise ist die Zahl der Tage endlich, an denen die Figur noch Schwert und Schild mit Hammer und Sichel in den ukrainischen Himmel reckt. Es wäre keine besonders kluge, wohl aber konsequente Entscheidung der einen Kriegspartei.
Russen und Ukrainer, die einst gemeinsam die faschistischen Okkupanten vertrieben, führen seit Februar dieses Jahres Krieg gegeneinander. Die slawischen Brüder gehen sich mit patriotischem Geheul gegenseitig an die Gurgel, und jeder wähnt sich im Recht: Die einen, weil sie die territoriale Integrität ihres Staates verteidigen – die anderen, weil sie einfältig glaubten, mit einer »Spezialoperation« den anderen daran hindern zu können, dem Westen näher zu rücken. Oder wie es in der russischen Kriegspropaganda hieß: das Land von Faschisten befreien. Das war eigentlich nicht sehr überzeugend, zumal der Kreml mit den Faschisten Italiens, Frankreichs und Deutschlands sehr kommod konferiert. Weil also einige Kiewer Knallchargen faschistische Kollaborateure und Terroristen wie Bandera oder Schuschewitsch für ehrenwerte Leute hielten und auch sonst ziemlich dummes Zeug machten, zerbombte man das halbe Land und ermordete Tausende. Und nebenbei brüskierte Moskau die Antifaschisten Europas und weltweit all jene, die auch in der Hochzeit des Kalten Krieges nicht nur fragten: »Meinst du, die Russen wollen Krieg?«, sondern die Sowjetunion gegen alle Angriffe verteidigten. »Russland hatte seit dem 19. Jahrhundert stets hochprofessionelle, geschickte Diplomaten. Dazu gehörte bisher auch Außenminister Sergej Lawrow. Aber sein Haus konnte oder wollte offenbar nicht durchdringen«, urteilt Erhard Crome ernüchtert den außenpolitischen Aspekt dieses Krieges.
Der gleichermaßen engagierte wie produktive Berliner Politikwissenschaftler hat nach seinem im April erschienenen Buch »Nation, Nationalismus und der Krieg in der Ukraine« (siehe Vorabdruck in dieser Zeitung am 16./17. 4.) nunmehr ein zweites Buch zum Thema vorgelegt. Das erste beschäftigte sich mit den tieferliegenden Ursachen des Konfliktes, dieses hier mit dem Wesen des Krieges und der verlogenen Propaganda auf beiden Seiten inklusive der deutschen, die sich Kiews Parolen zu eigen gemacht hat.
Ja, sagt Crome, der Westen hat nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation den Krieg zum »normalen Mittel« der internationalen Politik erklärt und Völkerrecht gebrochen (Irak, Libyen, Afghanistan, Jugoslawien etc.) Russland sei nun – »mit über zwanzigjährigem Abstand« – auf diesen Kurs eingeschwenkt. Aber, so Crome weiter, »die Lügen und Verbrechen der USA entlasten die von Putins Russland in keiner Weise«. Und obendrein, noch einmal: Das jahrzehntelange Ringen der Sowjetunion um Entspannung und Abrüstung ist entsetzlich desavouiert. »Vor den Kopf gestoßen sind auch all jene, die in vielen Ländern, auch in Deutschland, … gegen die Verteufelung der Russen und für mehr Verständigung zwischen dem Westen und Russland eintraten.« Die Sowjetunion, erinnert Crome, habe seit 1917 als Gegenmacht zum Imperialismus »bleibende Veränderungen im Weltsystem bewirkt«, ihre Zerschlagung hingegen habe Russland in ein »normales« kapitalistisches Land in der nun wieder »normalen« imperialistischen Welt verwandelt. Crome liefert bestechend logische Argumente und eindeutige Fakten für seine Thesen.
Im Fokus steht auch Putins krude nationalistische Geschichtssicht. Die Bolschewiki hätten – so der Kremlchef am 21. Januar 2016 – »eine Atombombe unter das Gebäude, das Russland heißt«, gelegt, »und die zerriss es dann auch«. Insbesondere kritisiert Putin die Rolle der bolschewistischen Partei bei der Zersetzung der russischen Front im Ersten Weltkrieg. »Und was haben wir davon gehabt? Wir haben gegen ein Land verloren, das ein paar Monate später selbst kapituliert hat.« Russland hätte also weiterkämpfen sollen, um in Versailles mit am Tisch der Sieger sitzen zu können. »Die Kommunisten kamen nur an die Macht um den Preis der herbeigeführten Niederlage des Reiches.« Crome weiter zu Putins Kriegsandrohungsrede am 21. Februar 2022: »Russlands Präsident unterstrich, dass die Leninschen Prinzipien des Staatsaufbaus nicht einfach ein Fehler, sondern schlimmer als ein Fehler waren, wie sich beim Zerfall der Sowjetunion zeigte. Wenn man in Sachen Ukraine die ›Dekommunisierung‹ vorantreiben wolle, gehe es nicht nur um Lenindenkmäler, sondern um die falschen Entscheidungen im Staatsaufbau. – Das war ein Alarmzeichen.«
Cromes Vorfahren, das nur am Rande, waren unter dem russischen Zaren bei Kriegsbeginn 1914 ihres Besitzes und ihres deutschen Passes beraubt und in Baschkirien interniert worden, 1920 durften sie nach Deutschland zurückkehren.
Im Bundestag rief Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 den Kampfauftrag der westlichen Welt aus: »Es muss unser Ziel sein, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt.« Sarkastisch kommentiert Crome: »Auch wenn heute ›die Demokratie‹ beschworen wird – es ist im Verlaufe der vergangenen fast 120 Jahre nunmehr der dritte deutsche Kanzler, der dies zum Ziel deutschen Vorgehens erklärt: Russland darf nicht gewinnen und muss darum besiegt werden!«
Der von Crome als Hegemonialkrieg zwischen Russland und den USA sowie der Nato bezeichnete Konflikt habe vier Dimensionen: »1. den Schießkrieg in der Ukraine, in dem die Ukrainer die Bodentruppen des Westens und die Opfer sind; 2. einen Propagandakrieg, den der ukrainische Präsident Selenskij und die westlichen Mainstream-Medien sehr geschickt führen; 3. ist er ein politisch-diplomatischer Krieg in der Uno und weltweit sowie 4. ein Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland.« Damit macht Crome bewusst, dass jede eindimensionale Betrachtung und einseitige Parteinahme falsch ist, weshalb er auch ein Kapitel mit »Krieg der Illusionisten« überschrieb. Der Illusionär an erster Stelle: Putin, der im Sommer 2022 bei der Feier des 350. Geburtstages von Peter I. seine Mission mit der des Zaren verglich, welcher im Nordischen Krieg gegen die Schweden den Zugang zur Ostsee erkämpft hatte: »Offenbar ist es auch unser Los: zurückzuholen und zu stärken.« Und an zweiter Stelle Selenskij, von dem wir täglich in den deutschen Medien hören, man wolle so lange kämpfen, bis der russische Aggressor besiegt sei. Und an dritter Stelle der Illusionisten: deutsche Politiker, die mit deutschen Waffen Frieden schaffen wollen.
Der Balanceakt der derzeitigen deutschen Regierung bestehe folglich darin, einerseits einen Atomkrieg, der auch Berlin treffen könnte, zu vermeiden und sich andererseits aktiv am Krieg des »kollektiven Westens« zu beteiligen, heißt es bei Crome. »Der ukrainische Krieg Russlands seit Februar 2022 ist ein ganz klassischer Krieg um die ›Neuaufteilung der Welt‹.«
Das Kampffeld einer antiimperialistischen Linken ist eigentlich damit klar, auch wenn Crome keine Ratschläge erteilt. Doch jeder und jede mit einigem politischen Verstand Ausgestattete begreift einmal mehr das Versagen der Linken hierzulande wie im Rest der Welt. Die II. Internationale ging im Ersten Weltkrieg bekanntlich am nationalen Opportunismus zugrunde. Das gleiche Schicksal droht augenscheinlich jetzt wieder.
Erhard Crome: Russlands ukrainischer Krieg. Die Ursachen und die Folgen. Verlag Edition Ost, 192 S., br., 17 €.
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