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Es gibt noch genug zu erzählen
Notizen zu einer Ausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung über das Leseland DDR
Rot ist schon mal gut. Roter Fußboden, rote Ziegel, rote Plakate und rote Stellwände. Aber kein Rotlicht. Verständlich, schließlich handelt es sich hier nicht um ein Partei- oder FDJ-Lehrjahr. Anzuzeigen ist eine neue Wanderausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie beleuchtet ein Kapitel DDR-Geschichte, das keineswegs nur mit den plumpen Schlagwörtern Propaganda, Indoktrination und Zensur zu erfassen ist. Dies wagt denn auch die vom Berliner Historiker Stefan Wolle kuratierte Schau nicht, obwohl sie auf bestimmte Attribute nicht verzichtet, die zum Vokabular der seit drei Jahrzehnten großzügig vom Bund finanzierten Institution zur Verbreitung des offiziellen Geschichtsbildes gehören. Ihre neue Exposition widmet sich dem Leseland DDR.
Es ist kein Geheimnis: Man las viel und gern in der DDR. Selbst auf dem Weg zur Arbeit in Bus und Bahn war das Buch Begleiter, zur Hand am Strand, auf der Parkbank und in der Kantine zur Mittagspause im volkseigenen Betrieb. Wie erklärt sich dies? Lust oder Frust, aus einer begrenzten realen Welt in unbegrenzte literarische Weiten, ferne Räume und Zeiten zu entfliehen? Und/oder war dies auch eine Frucht staatlich geförderte Neugier aufs gedruckte Wort von Kindesbeinen an, beispielsweise bereits mit »Bummi«, der »ABC-Zeitung« und »Frösi«? Diese Fragen stellt sich die Ausstellung nicht explizit, berührt sie einzig im Kapitel Reiselektüre. Jawohl, die gab es in der DDR, trotz Reisebeschränkung.
»Was waren das für wunderbare Zeiten für die Literatur! Vor den Buchhandlungen standen die
Kunden Schlange und die Buchbasare wurden von Literaturfreunden überrannt. Zirkel schreibender Arbeiter und Poetenseminare förderten literarische Talente. Mit dem Literaturinstitut in Leipzig gab es im Leseland DDR sogar eine Ausbildungsstätte für künftige Dichter«, jauchzt eingangs Stefan Wolle, Autor der Texte auf den Schautafeln. Um sodann zu beklagen: »Aber was waren das andererseits für schreckliche Zeiten, in denen jedes gedruckte Wort einer strengen Zensur unerlag! Die Partei glaubte an die weltverändernde Kraft des Wortes und fürchtete gleichzeitig – vielleicht über Gebühr – die Wirkung kritischer Texte.«
Zitiert wird Siegfried Lokatis, Buchwissenschaftler an der Universität Leipzig: »Die DDR-Gesellschaftsgeschichte erfährt man am besten aus ihrer schönen Literatur.« Und die war wirklich schön, weil real und lebensnah, weil sie den Verhältnissen auf den Zahn fühlte, Karies hier und dort aufspürte und für Debatten sorgte. Diskutiert wurde nicht nur über den „Geteilten Himmel» von Christa Wolf (1963) oder den „König David Bericht» von Stefan Heym(1972). Gleichwohl kritische und parteiliche Bücher wie »Guten Morgen Du Schöne« von Maxie Wander oder die Tagebücher der Brigitte Reimann. Elfried Brüning hätte hier durchaus auch genannt werden können/sollen. Noch heute hat die 2014 gestorbene Schriftstellerin, zu Weimarer Zeiten Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, zahlreiche Fans. »Ein Kind für mich allein«, »Regine Haberkorn«, »Partnerinnen« oder »Frauenschicksale« berührten die Leserinnen, weil sie deren Leben, Sorgen, Sehnsüchte authentisch widerspiegelten. Bedauerlich ist, dass von manchen Männern in der (männerdominierten) Spitze des DDR-Schriftstllerverbandes Bücher von Frauen zu Frauenproblemen mitunter als seichte Unterhaltungslektüre abgetan wurde. Was sie wahrlich nicht war.
Hier sei die Gelegenheit nicht ungenutzt gelassen, um an die großartigen historischen Romane der 2018 verstorbenen Rosemarie Schuder, verheiratet mit dem Schriftsteller und Shoah-Überlebenden Rudolf Hirsch („Patria Israel») zu erinnern. Ihre Bücher („Der Ketzer von Naumburg», „Paracelsus», „Der Gefesselte» und „Die zerschlagene Madonna» über Michelangelo u.v.m) erlebten mehrere Auflagen. Und auch sie hat unter Ostdeutschen noch heute eine Fangemeinde. Ihr Glück ist, im Gegensatz zu vielen anderen DDR-Autoren, nach der „Vereinigung» einen Verleger gefunden zu haben, der ihre späteren Werke publizierte (Werbeblock: Andreas Peter, Niederlausitzer Verlag Guben).
Spannende historische Romane für Kinder und Jugendliche verfasste unter anderem Willi Meinck, aus einer Arbeiterfamilie entstammend, der sich in der NS-Zeit der Einberufung zur Wehrmacht (allerdings vergeblich) durch Flucht zu entziehen versucht hatte („Die seltsamen Abenteuer des Marco Polo», „Die Aufstände der Bürger von Worms und Köln»).
Gewiss, »Wir kochen gut«, das im vergangenen Jahr, wie in der Ausstellung vermerkt, ein stolzes Jubiläum feierte (75 Jahre), gehörte zu den auflagenstärksten Büchern in der DDR. Erfolg feierte auch das Pendant »Wir backen gut«, ebenfalls vom nach wie vor umtriebigen Verlag für die Frauen herausgegeben. »Noch heute stehen diese Bücher von jahrzehntelangem Küchendunst imprägniert in vielen ostdeutschen Regalen. Die zerlesenen Exemplare sind mit eingelegten Zeitungsartikeln und handgeschriebenen Notizen ergänzt«, weiß Wolle. Doch, um den Faden wieder aufzunehmen, DDR-Frauen lasen eben nicht nur Rezeptbücher, sondern eben auch die Erinnerungen von Elfriede Brüning an einstige Weggefährtinnen, Verfolgte unterm Hakenkreuz, ermordete Widerstandskämpferinnen.
Womit wir beim Anfang wären, der in der Ausstellung leider zu kurz kommt. Zwar wird der Antifaschismus als historische Legitimation der DDR benannt, als literarischer Beleg jedoch einzig der Roman »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz genannt – »als ein Beispiel für die Gratwanderung zwischen Geschichtsklitterung und der Vermittlung antifaschistischer Ideale«. Zu sehen ist ein Foto von der Uraufführung des gleichnamigen Defa-Films (Regie: Frank Beyer) am 10. April 1963 im Kino »Colosseum« auf der Schönhauser Allee in Berlin. Doch wesentlich früher, schon in der sowjetischen Besatzungszone, war antifaschistische Literatur präsent, später teils auch Schullektüre wie Anna Seghers »Das siebte Kreuz« und »Professor Mamlock« von Friedrich Wolf. Wolle notiert zu »Nackt unter Wölfen«: »Roman und Film gingen sehr frei mit den historischen Tatsachen um. Das betraf nicht nur das Schicksal des echten ›Buchenwaldkindes‹, sondern auch die Überhöhung der Rolle der Kommunisten und die Legende von der Selbstbefreiung des Lagers.« Letzteres kann freilich nicht »überhöht« werden, weil der Aufstand der Häftlinge gegen ihre SS-Peiniger auf dem Ettersberg bei Weimar am 11. April 1945 tatsächlich eine mutige, überlebensmutige Aktion war, ungeachtet dessen, dass die US-Army bereits wenige Kilometer vor dem Lager stand. Man sollte auch anerkennen, dass die Buchenwalder auf das Wort „Selbstbefreiung» bestehen. Das hat etwas mit Würde zu tun. Nebenbei: Dass antifaschistische Werte in der DDR-Belletristik nicht nur über die große Erzählung über den kommunistischen Widerstand vermittelt wurden, beweisen die „Abenteuer des Werner Holt» (zwei Bände) von Dieter Noll, in denen die schmerzliche Wandlung eines von der Naziideologie verführten Jugendlichen angesichts erlebter SS-Gräueltaten im Krieg beschrieben wird.
Richtig ist, dass Sowjetliteratur in der DDR weit verbreitet war. Und auch hier dürfte gelten, dass sich da so manches noch in privaten Bücherregalen findet, vielleicht auch die Kriegsromane von Konstantin Simonow, »in denen auch die schweren strategischen Fehler Stalins zur Sprache kamen«, so Wolle. Oder auch Galina Nikolajewas »Schlacht unterwegs«, in dem ein Ingenieur gegen die „sozialistische Misswirtschaft» (Wolle) streitet. Der Kurator erinnert sich: »Oft erfuhr man über das Sowjetland mehr aus Romanen als aus Geschichtsbüchern oder gar aus der Zeitung.« Mit Gorbatschows Glasnost galt dann jedoch nicht nur der »Sputnik« als Konterbande und verfiel dem Verbot. Findige respektive sprachkundige DDR-Bürger suchten nun »Das sowjetische Buch« Unter den Linden in Berlin und anderswo auf. Nicht umhin kam die DDR-Führung, das Entréebillet des letzten KPdSU-Gneralsekretärs drucken zu lassen, in dem dieser bereits das »gemeinsame Haus Europa« visionierte, freilich nur in beschränkter Stückzahl, womit das nur unterm Ladentisch oder mit »Vitamin B« zu ergattern war. Erwähnt werden soll bei dieser Gelegenheit, dass sich Elfriede Brüning in eben jener Eiszeit zwischen »Brüdern« daran machte, in Stalins Sowjetunion repressierte, eingekerkerte, verbannte deutsche Kommunistinnen zu interviewen. In die Druckerpresse gelangten die verschriftlichten Tonbandprotokolle in der Umbruchszeit, als auch in dieser Zeitung die Verbrechen unter Missbrauch kommunistischer Ideen angeprangert wurden.
Durchweg als Konterbande galten viele westliche Bücher, verbannt in »Giftschränken«, ausgehändigt nur auf Sondergenehmigung. »Den höchsten toxischen Grad hatte George Orwells ›1984‹«, vermerkt Wolle. Das betraf auch Wolfgang Leonhards »Die Revolution entlässt ihre Kinder«, erst 40 Jahre später für jeden DDR-Bürger erhältlich. Deren Interesse war da aber mehrheitlich auf existenziellere Belange fokussiert. Zu den in der DDR am meisten verlegten Autoren der Bundesrepublik dürfte Heinrich Böll gehören (»Wanderer, kommst du nach Spa…«, »Ansichen eines Clowns«, »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«). Gern gesehener Gast in der DDR war Bernt Engelmann, einer der engagiertesten westdeutschen Aufklärer von Nazi- und Kriegsverbrechen, vor allem des millionenfachen Mords an den Juden. Ein Foto in der Ausstellung zeigt ihn 1987 im Gespräch mit dem Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbands Hermann Kant.
Erfreulicherweise wird in der Ausstellung ohne denunziatorisches Gehabe auf die Zirkel schreibender Arbeiter zurückgeblickt. »Greif zur Feder, Kumpel!«, lautete die Losung, erdacht von Werner Bräunig, einem Hilfsarbeitersohn, gemeinsam mit dem gestandenen Schriftsteller Jan Koplowitz, wie Elfriede Brüning einst Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, von den Nazis ob seiner jüdischen Herkunft und kommunistischen Gesinnung ins britische Exil gezwungen. Zwei Konferenzen in der Industriestadt Bitterfeld 1959 und 1964 ermunterten Arbeiter, sich nach Feierabend an die Schreibmaschine zu setzen. Die »Neue Deutsche Literatur« druckte 1965 unter dem Titel »Rummelplatz« Auszüge aus dem Manuskript von Bräunig, in dem dieser seine Beobachtungen im Uranbergbau der sowjetischen Aktiengesellschaft Wismut wahrheitsgemäß und schnörkellos zu Papier gebracht hatte. Der parteipolitisch-doktrinäre Zerriss seines Textes auf dem berüchtigten 11. Plenum des SED-Zentralkomitees 1965 habe »einer öffentlichen Hinrichtung« geglichen, so Wolle. »Er zerbrach daran, versank im Alkoholismus und veröffentlichte nie wieder längere Texte.« Der unvollendet gebliebene Roman erschien erst 2007 komplett und wurde über Nacht ein Bestseller. Ja, auch mein Schwiegervater, der 20 Jahre unter Tage bei Wismut geschuftet hatte, verschlang den voluminösen Band atemlos.
Krimis waren in der DDR natürlich wie überall auch angesagt. Harry Thürk, einer der meistgelesenen deutschen Autoren, dessen Politthriller hauptsächlich im ostasiatischen Raum spielten, findet in der Ausstellung keine Erwähnung. Er war nicht nur Autor der »Stunde der toten Augen«, sondern auch des »Gaucklers«, in dem unverkennbar der sowjetische Dissident Alexander Solschenizyn als Marionette der CIA fungierte. Trotzdem las man Thürk gern, vielleicht wegen des Hauchs von Exotik. Die Sparte Science-Fiction vertreten in der Schau der populäre polnische Schriftsteller Stanisław Lem sowie die sowjetischen Gebrüder Arkadi und Boris Strugatzki. Näheres ist aus einer ebenfalls derzeit in der Alten Feuerwache in Treptow gezeigten Dokumentation von ostdeutschen Fanclubs zu erfahren.
Gewiss, es ist unmöglich, auf nur 20 Tafeln in knappen Texten, trotz zahlreicher Fotos und abrufbaren Videointerviews, die ganze Vielfalt und Bandbreite von Literatur in der DDR abzubilden. So vermisst man einen Hinweis auf die von Reclam in Taschenbuchformat besorgten, für jedermann und jede Frau erschwinglichen Editionen von Klassikern der Weltliteratur, von Thomas Morus und Shakespeare, Voltaire und Robespierre über Goethe, Schiller, Herder bis Rabindranath Tagore und Dostojewski. Jeder Besucher, jede Besucherin wird eine Lücke finden. Und das ist auch gut so. Stefan Wolle merkt abschließend an: »Ob das große Romanwerk über die DDR bald erscheint oder ob es auf sich warten lässt, sicher ist eines: Es gibt noch genug zu erzählen.« Fürwahr.
»Leseland DDR«, bis 4. Oktober, Mittelpunktbibliothek der Alten Feuerwache Berlin-Treptow; Michael-Brückner-Straße 9, 12439 Berlin. Schulen, Rathäuser u.a. Einrichtungen können die Plakatausstellung über www.leseland-ddr.de für 30 € bestellen; die als Kooperationspartner gewonnene Peter-Sodann-Bibliothek würde Aussteller auf Wunsch auch mit Büchern beliefern.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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