Werbung

EU lässt Deserteure im Stich

Viele Russen und Ukrainer wollen nicht kämpfen – Deutschland und die Europäische Union helfen den Betroffen trotz Versprechen nur selten

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.
Russen, die vor der Mobilisierung ins Ausland fliehen, erhalten zumindest in der EU kaum Hilfe.
Russen, die vor der Mobilisierung ins Ausland fliehen, erhalten zumindest in der EU kaum Hilfe.

Wiktor Burgejew hat noch einmal Glück gehabt. Am Donnerstag erhielt der Moskauer IT-Spezialist die Aufforderung, sich im Wehramt zu melden, um »seine Angaben zu überprüfen«. Vor Ort erhielt Burgejew unerwartet den Marschbefehl, nur wenige Stunden später sollte er sich in der Kaserne melden – dabei hat der 32-Jährige nie gedient und darf somit nicht mobilisiert werden. Erst nachdem russische Medien den Fall publik machten, versprach die Armee, Burgejew nicht einzuziehen.

Burgejews Fall zeigt, dass trotz anders lautender Versprechen der politischen und militärischen Führung niemand vor der Mobilisierung für den Krieg in der Ukraine sicher ist. Seit Präsident Wladimir Putin diese am Mittwoch verkündete, versuchen viele Männer das Land zu verlassen. Bilder von Flughäfen zeigen riesige Schlangen an der Passkontrolle und an den Landgrenzen kommt es zu kilometerlangen Staus. Immer wieder werden Männer herausgepickt, befragt und wieder zurückgeschickt. Noch können aber die meisten Russland ohne Probleme verlassen.

Seit Beginn der Invasion in der Ukraine am 24. Februar haben mehr als 100 000 Russen im wehrpflichtigen Alter aus Angst ihr Land verlassen, schätzt Connection e.V.. Seit 20 Jahren setzt sich der Verein aus Offenbach für Deserteure ein. Der Großteil der Männer ist in Länder wie Armenien, Georgien oder auch nach Israel gegangen. In Westeuropa ist hingegen kaum einer gelandet. In den 32 Ländern, die das Statistische Amt der Europäischen Union Eurostat abdeckt, sind es vielleicht 1000, sagt der Geschäftsführer von Connection, Rudi Friedrich, im Gespräch mit »nd.dieWoche«.

Russen bekommen als Deseurteure kein Asyl

Dass so wenige Russen, die vor dem Krieg geflohen sind, in der Europäischen Union Zuflucht gefunden haben, liegt einerseits an der Visapflicht und andererseits an nicht eingehaltenen Versprechen. Anfang April rief EU-Ratspräsident Charles Michel vor dem Europäischen Parlament in Straßburg russische Soldaten zum Desertieren auf. Ein Asylangebot für Deserteure nannte er »eine wertvolle Idee, die weiterverfolgt werden sollte«. Auch die Bundesregierung hatte anschließend zugesagt, russische Deserteure aufzunehmen. Doch es geschah nichts.

Größtes Hindernis für Russen, in Deutschland Asyl zu bekommen, ist die aktuelle Rechtsprechung. Denn wer aus humanitären Gründen aufgenommen werden will, muss nachweisen, dass er desertiert ist oder versucht hat, den Kriegsdienst zu verweigern. Das allein wäre in Deutschland noch kein Asylgrund. Es braucht vielmehr den Nachweis, dass man in den Krieg in die Ukraine geschickt werden sollte, erklärt Friedrich. Die meisten waren allerdings so klug zu gehen, bevor sie eingezogen werden konnten. Viele Asylverfahren wurden deswegen abgelehnt. Deutschland und die EU haben die Russen auflaufen lassen. Erst habe man zur Desertion angestachelt und dann kein Angebot gemacht. »Das geht doch nicht«, kritisiert Friedrich das bisherige Verhalten der Politik.

Ukrainer erhalten in der EU humanitäre Hilfe

Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine haben es besser, wenn sie es in die EU schaffen. Zwei bis maximal drei Jahre wird ihnen der humanitäre Aufenthalt garantiert. Auch wenn sie sich nach ukrainischem Recht illegal von der Armee entfernt haben, droht ihnen in dieser Zeit keine Auslieferung. Was danach kommt, weiß niemand. Friedrich weist darauf hin, dass viele Deserteure keine Kriegsdienstverweigerer im klassischen Sinne seien, sondern den Krieg als »Bruderkrieg« verstehen. Man wolle nicht gegen eine Armee kämpfen, in der möglicherweise Verwandte sind.

In der Ukraine wurde das Recht Kriegsdienstverweigerung nach der russischen Invasion ausgesetzt. Russen hatten zumindest theoretisch die Möglichkeit, nein zu sagen. Mit Beginn der Mobilisierung wurden die Gesetze jedoch verschärft. Wer sich weigert und beispielsweise nicht zur Musterung kommt, dem drohen lange Haftstrafen. Dennoch muss das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nach internationalen Standards zu jeder Zeit existieren, also auch im Krieg, betont Friedrich: »Wann, wenn nicht in einem Krieg ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wichtig?«

Die Balten mauern, die Bundesregierung verspricht Besserung

Vor einigen Tagen hat Connection eine Petition gestartet, mit der die europäische Politik aufgefordert wird, Schutzangebote zu schaffen. Die Aktion sei wichtig, weil die Visavergabe auf Druck der baltischen Länder gerade erst verschärft wurde, sagt Friedrich. Zudem planen etwa Finnland und Estland, ihre Grenzen zu schließen. »Es muss den Russen wehtun«, begründete Estlands Innenminister Lauri Läänemets das Vorhaben.

Unterdessen steigt die Zahl der Anfragen bei Connection und anderen Organisationen. Der russische Menschenrechtler Pawel Tschikow schreibt von 10 000 Anfragen an einem Tag. Beim Fernsehsender »Doschd« sprach der Leiter der belarussischen Stiftung BySol von einer Versiebenfachung der Anrufe, 70 Prozent seien dabei von der Mobilisierung betroffen. Allerdings ist Belarus kein sicherer Ort. Staatschef Alexander Lukaschenko hat Grenzschützer und Polizisten angewiesen, nach Russen Ausschau zu halten, die sich der Mobilisierung entziehen.

Nachdem FPD und Grüne die Aufnahme von Deserteuren gefordert hatten, sagte SPD-Innenministerin Nancy Faeser am Donnerstag der »FAZ«, dass Russen, die in »größte Gefahr« geraten, »im Regelfall« Schutz in Deutschland bekommen sollen. Die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sei bereits entsprechend angepasst worden, allerdings bleibe es bei der Überprüfung jedes Einzelnen, so Faeser.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!